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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht
Autoren: Fred Vargas
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kein Tier wie die anderen.«
    »Kein Tier wie die anderen?«
    »Anders. Größer. Eine Naturgewalt, ein riesiger Kiefer. Eben nicht normal. Mit einem Wort: ein Ungeheuer.«
    »Ach was.«
    »So sagen sie.«
    Lawrence schüttelte bestürzt sein blondes Haar.
    »Dein Land ist ein verdammt zurückgebliebenes Land alter Arschlöcher«, sagte er nach kurzem Schweigen.
    Der Kanadier schaltete von einem Sender zum nächsten, bis er auf eine Nachrichtensendung stieß. Camille setzte sich auf den Boden, schlug ihre Stiefel übereinander und lehnte sich an Lawrences Beine, während sie an den Lippen nagte. Alle Wölfe kämen jetzt dran, auch der alte Augustus.

4
    Lawrence verbrachte das Wochenende damit, die regionalen Zeitungen zu sammeln, die Nachrichten abzuwarten und ins Café unten im Dorf hinunterzugehen.
    »Geh nicht«, riet Camille. »Sie werden dir Ärger machen.«
    »Why?« fragte Lawrence mit diesem schmollenden Gesichtsausdruck, den er an sich hatte, wenn er besorgt war. »Es sind ihre Wölfe.«
    »Es sind nicht ihre Wölfe. Es sind die Wölfe der Pariser, Maskottchen, die ihnen ihre Herden wegfressen.«
    »Bin kein Pariser.«
    »Du beschäftigst dich mit Wölfen.«
    »Ich beschäftige mich mit Grizzlys. Das ist meine Arbeit, Grizzlys.«
    »Und Augustus?«
    »Was anderes. Respekt vor den Alten, Ehrerbietung gegenüber den Schwachen. Er hat nur noch mich.«
    Lawrence war wenig begabt zum Reden und zog es vor, sich durch Zeichen, Lächeln oder Grimassen verständlich zu machen, so routiniert, wie es Jäger oder Taucher tun, die gezwungen sind, sich stumm zu verständigen. Seine Sätze zu beginnen wie auch zu beenden verursachte ihm Qualen, und er lieferte zumeist nur verstümmelte Mittelteile, die mehr oder minder unhörbar waren - in der deutlichen Hoffnung, jemand anderes möge diese Fron für ihn beenden. Sei es, daß er die arktische Einsamkeit gesucht hatte, um dem Geschwätz der Menschen zu entgehen, sei es, daß die unermüdlichen Reisen in die arktischen Weiten ihm die Freude am Wort genommen und ihm die Stimme geraubt hatten, jedenfalls redete er mit gesenktem Kopf, geschützt von seiner blonden Mähne, und so selten wie möglich.
    Camille, die mit großer Freigebigkeit Worte verschwendete, hatte Mühe gehabt, sich an diese sparsame Kommunikation zu gewöhnen. Sie hatte Mühe, zugleich aber auch Erleichterung verspürt. In den letzten Jahren hatte sie viel zu viel geredet, auch noch ohne jeden Anlaß, und das hatte sie selbst angeekelt. So boten das Schweigen und das Lächeln des großen Kanadiers ihr eine unerwartete Rast, eine Ruhephase, die sie von ihren alten Gewohnheiten reinigte, deren zwei nervigste unbestritten das Argumentieren und das Überzeugen waren. Es war für Camille unmöglich, die so unterhaltsame Welt der Worte aufzugeben, aber zumindest hatte sie das ganze fabelhafte Hirnareal eingemottet, das sie früher in den Dienst der Überzeugung anderer gestellt hatte. Es gammelte endgültig in einem Winkel ihres Kopfes vor sich hin, ein erschöpftes, stillgelegtes Ungeheuer, dessen Räderwerk der Argumente und dessen glänzende Metaphern immer mehr verrotteten. Dank einem Kerl, der aus lauter stummen Gesten bestand, der seinen Weg ging, ohne irgend jemanden um seine Meinung zu fragen, und der um keinen Preis wünschte, daß man ihm gegenüber Kommentare über das Leben abgab, atmete Camille tief durch und befreite ihren Geist, so wie man einen Dachboden von angehäuftem Gerumpel leert.
    Sie brachte eine Folge von Noten zu Papier.
    »Wenn dir die Wölfe egal sind, warum willst du dann runtergehen?« nahm sie das Gespräch wieder auf.
    Lawrence lief in dem kleinen, dunklen Zimmer mit den geschlossenen Holzläden auf und ab. Die Hände im Rücken, ging er von einer Ecke in die andere, ließ unter seinem Gewicht ein paar Fliesen wackeln und streifte mit seinem Haar den Hauptbalken. Diese Hütten im Süden waren nicht für Kanadier seines Formats vorgesehen. Mit der linken Hand suchte Camille einen Rhythmus auf ihren Tasten.
    »Rauskriegen, welcher es ist«, sagte Lawrence. »Welcher Wolf.«
    Camille wandte sich von den Tasten ab und drehte sich zu ihm herum.
    »Welcher es ist? Denkst du dasselbe wie sie? Daß es nur ein einziger ist?«
    »Jagen oft allein. Man müßte die Wunden sehen.«
    »Wo sind die Schafe?«
    »Im Kühlraum, der Fleischer hat sie eingesammelt.«
    »Will er sie verkaufen?«
    Lawrence schüttelte lächelnd den Kopf.
    »Nein. ›Die toten Tiere werden nicht gegessen‹, hat er
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