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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht
Autoren: Fred Vargas
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waren ersetzt worden, aber die Gemüter der Schafzüchter erhitzten sich, sie besorgten sich Schutzhunde, und im letzten Winter wäre es beinahe zur allgemeinen Treibjagd gekommen. Seit Ende Februar, seit die Wintermeute sich zerstreut hatte, hatten sich die Wogen wieder geglättet. Ruhe.
    Lawrence stand auf seiten der Wölfe. Er war der Ansicht, daß die Tiere dem armseligen Frankreich Ehre erwiesen hatten, indem sie wagemutig, wie würdevolle Schatten aus der Vergangenheit, die Alpen überquerten. Es kam überhaupt nicht in Frage, sie von kleinen, hitzigen Männern massakrieren zu lassen. Aber wie jeder nomadische Jäger war der Kanadier ein vorsichtiger Mann. Im Dorf redete er nicht von den Wölfen, er blieb stumm und folgte darin dem Prinzip seines Vaters: »Wenn du frei bleiben willst, halt's Maul.«
    Seit fünf Tagen war Lawrence nicht wieder nach Saint-Victor-du-Mont hinabgestiegen. Er hatte Camille gesagt, daß er dem ehrwürdigen Augustus bis Donnerstag mit der Infrarotkamera auf seinen hoffnungslosen nächtlichen Jagden folgen würde. Aber am Donnerstag hatten die wiederholten Mißerfolge des greisen Wolfs Lawrences Widerstand gebrochen, und er hatte seine Beobachtungsaktion um einen Tag verlängert, um etwas zu fressen für ihn zu finden. Er hatte zwei Wildkaninchen aus ihrem Bau gefangen, ihnen mit einem Schnitt die Kehle durchtrennt und die Kadaver auf einer der Fährten von Augustus ausgelegt. Im Schutz des Gebüschs, eingewickelt in ein Wachstuch, das seinen Menschengeruch verbergen sollte, hatte Lawrence besorgt auf das Auftauchen des mageren Tieres gewartet.
    Jetzt durchquerte er, erleichtert pfeifend, das wie ausgestorben daliegende Saint-Victor. Der Alte war erschienen, und der Alte hatte gefressen.
    Camille ging ziemlich spät schlafen. Als Lawrence die Tür aufstieß, sah er sie über die Tasten ihres Synthesizers gebeugt, die Kopfhörer über den Ohren, mit gerunzelter Stirn, geöffneten Lippen, während sich ihre Hände, manchmal zögernd, von einer Note zur nächsten bewegten. Nie war Camille so schön, wie wenn sie sich konzentrierte, sei es bei der Arbeit, sei es bei der Liebe. Lawrence legte seinen Rucksack ab, setzte sich an den Tisch und beobachtete sie ein paar Minuten. Abgekapselt unter ihren Kopfhörern, für äußere Geräusche unempfänglich, kritzelte sie auf Notenpapier. Lawrence wußte, daß sie bis November den Soundtrack für einen romantischen Fernseh-Zwölfteiler abliefern mußte, ein wahres Desaster, hatte sie gesagt. Und sehr viel Arbeit, wenn er es richtig verstanden hatte. Lawrence verbreitete sich ungern über Details der Arbeit. Man machte die Arbeit, und fertig. Das war das Wichtigste.
    Er stellte sich hinter sie, betrachtete ihren Nacken unter den kurzen Haaren und küßte sie rasch
    Camille nie bei der Arbeit stören, und sei es nach fünftägiger Abwesenheit, er verstand das besser als jeder andere. Sie arbeitete noch zwanzig Minuten, bevor sie ihre Kopfhörer absetzte und zu ihm an den Tisch kam. Lawrence ließ gerade die Bilder von Augustus ablaufen, wie er die Wildkaninchen verschlang, und hielt ihr die Kamera hm.
    »Das ist der Alte, der sich den Bauch vollschlägt«, erklärte er.
    »Siehst du, es geht noch nicht mit ihm zu Ende«, sagte Camille, während sie ihr Auge an das Okular drückte.
    »Ich hab ihm das Fleisch besorgt«, antwortet Lawrence und verzog das Gesicht.
    Camille legte ihre Hand auf das blonde Haar des Kanadiers, während sie weiter mit einem Auge durch den Sucher sah.
    »Lawrence«, sagte sie, »es hat Aufruhr gegeben. Mach dich bereit, sie zu verteidigen.«
    Lawrence fragte sie, wie es seine Art war - mit einer einfachen Bewegung des Kinns.
    »Dienstag haben sie in Ventebrune vier Schafe mit durchgeschnittener Kehle gefunden, und heute morgen neun weitere zerrissen in Pierrefort.«
    »God«, flüsterte Lawrence. »Jesus Christ. Bullshit.«
    »Das ist das erste Mal, daß sie sich so weit runter wagen.«
    »Werden eben mehr.«
    »Ich hab's von Julien erfahren. Es kam in den Nachrichten, es wird zum landesweiten Thema. Die Schafzüchter haben gesagt, daß sie den Wölfen aus Italien die Gier auf Fleisch schon austreiben würden.«
    »God«, wiederholte Lawrence. »Bullshit.«
    Er sah auf seine Uhr, schaltete die Kamera aus und machte besorgt einen winzigen Fernseher an, der in einer Ecke auf einer Kiste stand.
    »Es kommt noch schlimmer«, fügte Camille hinzu.
    Lawrence wandte ihr mit erhobenem Kinn das Gesicht zu.
    »Sie sagen, diesmal sei es
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