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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht
Autoren: Fred Vargas
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apathisch die Formulare aus.
    »Ich hab ihm Bescheid gesagt«, sagte Camille. »Er kommt runter.«
    »Hast du danach noch 'ne Minute Zeit? In den Latrinen ist was undicht, das müßtest du mir reparieren.«
    »Ich hab mein Werkzeug nicht dabei, Suzanne. Später.«
    »Schau dir inzwischen mal das da drinnen an, meine Liebe«, sagte Suzanne und wies mit ihrem dicken Daumen in Richtung Schafstall. »Wirklich das Blutopfer eines Wilden.«
    Bevor Camille durch die niedrige Tür ging, grüßte sie respektvoll und etwas eingeschüchtert den Wacher und schüttelte Soliman die Hand. Im Gegensatz zu dem Wacher kannte Camille Soliman, der Suzanne wie ein Schatten überallhin folgte und ihr bei allen Arbeiten half, gut, und sie kannte auch seine Geschichte.
    Es war sogar die erste Geschichte gewesen, die man ihr bei ihrer Ankunft erzählt hatte, so als sei es das Allerwichtigste: Ein Schwarzer im Dorf - davon hatte man sich dreiundzwanzig Jahre danach mit Ach und Krach erholt. Der junge Afrikaner war wie im Märchen als kleines Baby in einem Feigenkorb vor der Kirchentür ausgesetzt worden. Niemand in Saint-Victor oder in der Umgebung hatte je irgendeinen Schwarzen gesehen, und man vermutete, das Baby sei in der Stadt gemacht worden, vielleicht in Nizza, wo man sich alles mögliche vorstellen konnte, einschließlich schwarzer Babys. Aber nun lag es vor dem Portal der Kirche Notre Dame in Saint-Victor und schrie wie am Spieß. Im Morgengrauen hatte sich das halbe Dorf bestürzt um den Korb und das pechschwarze Kind versammelt. Dann hatten sich, zögernd noch, Frauenarme nach ihm ausgestreckt, um es hochzuheben, es dann in den Armen zu wiegen und zu beruhigen. Lucie, die das Café am Platz führte, hatte als erste gewagt, ihm einen Kuß auf die rotzverschmierte Wange zu geben. Aber nichts hatte den Kleinen, der vor Brüllen schier erstickte, beruhigen können. »Es hat Hunger, das Negerkind«, hatte eine Alte gesagt, »Es hat geschissen« ein anderer. Dann hatte sich die massige Suzanne mit athletischen Schritten genähert, hatte die Reihen durchbrochen, sich den Kleinen geschnappt und ihn auf ihrem Arm gehalten. Das Kind hatte augenblicklich aufgehört zu brüllen und seinen Kopf an Suzannes großen Busen fallen lassen. In diesem Augenblick hatte jeder - wie in einem Märchen, in dem die Prinzessinnen alle dicke Suzannen sind - es für eine ausgemachte Sache gehalten, daß das kleine Negerkind von nun an der Herrin von Les Écarts gehörte. Suzanne hatte ihren Zeigefinger in den gierigen Mund gesteckt und gebrüllt - Lucie würde sich noch ihr ganzes Leben daran erinnern:
    »Durchsucht den Korb, ihr Arschlöcher! Da liegt garantiert ein Zettel!«
    Dort hatte tatsächlich ein Zettel gelegen. Der Pfarrer hatte sich auf die Stufen vor der Kirche gestellt, würdevoll einen Arm ausgestreckt, um Ruhe einkehren zu lassen, und mit lauter Stimme vorzulesen begonnen: Biteschon, beschäftigen ihm...
    »Red deutlicher, du Arschloch!« hatte Suzanne lauthals gerufen und das Baby geschüttelt. »Man versteht kein Wort!«
    Daran würde sich Lucie noch ihr ganzes Leben erinnern. Suzanne Rosselin hatte vor nichts und niemandem Respekt.
    »Biteschon«, hatte der Pfarrer folgsam wiederholt, »beschäftigen ihm, beschäftigen gut. Er heist Soliman Melchior Samba DIAWARA sagen sie ihm seine Mutter gut und sein Fater böse wie Sumfhölle. Beschäftigen ihm, lieben ihm, biteschon.«
    Suzanne hatte sich an den Pfarrer gedrückt, um über seine Schulter mitzulesen. Dann hatte sie ihm den vollgepißten Zettel weggenommen und ihn in eine Tasche ihres Sackkleids gestopft.
    »Soliman Melchior Dingsbums?« hatte Germain, der Straßenwärter, lachend gefragt. »Was denn noch alles? Was soll der Scheiß? Kann der nicht Gérard heißen wie alle? Was glaubt die Mutter, wo sie herkommt? Hält sich wohl für was Besonderes?«
    Hier und da wurde gelacht, aber nicht viel. Das mußte man den Leuten von Saint-Victor schon lassen, hatte Lucie hinzugefügt, es waren nicht alles Arschlöcher, sie konnten sich beherrschen, wenn es nötig war. Nicht wie in Pierrefort, wo Menschliches nicht viel zählte.
    Einstweilen lag der kleine schwarze Kopf des Babys noch immer in der Armbeuge der großen Frau. Wie alt mochte es sein? Einen Monat, wenn's hochkam. Und wen mochte es? Suzanne. So ist das Leben.
    »Gut«, hatte Suzanne gesagt und ihr Völkchen von der Kirchentreppe aus gemustert. »Wenn jemand nach ihm sucht, so ist er auf Les Écarts.«
    Und damit war die Angelegenheit
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