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Lesereise Prag

Lesereise Prag

Titel: Lesereise Prag
Autoren: Klaus Brill
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Ein Vorwort, oder:
Steiles Pflaster
    Mit der Dunkelheit kommt die Stille. Auf den Trampelpfaden des Tourismus ist man dann allein, und Prag strömt nur noch seinen Bierdunst und seine Schönheit aus. Oft, wenn ich spät, von der Moldau kommend, auf der Kleinseite den Berg hinanstieg, kam mir die steil hinaufführende Nerudova-Straße vor wie die Kulisse eines Films. Denkt man sich die Autos, die Reklameschilder und den Schaufensterrumel weg, könnte es sogar ein historischer Film sein, einer von unzähligen, die in dieser Stadt schon gedreht wurden. Auch in dieser Straße. Sie ist Teil des alten Königswegs, auf dem vor Zeiten die böhmischen Regenten nach ihrer Wahl vom Vyšehrad über den Altstädter Ring und die Karlsbrücke bergan zur Burg schritten.
    Im historischen Ensemble des Prager Zentrums nimmt die Nerudova mit ihren barocken Häusern und Palästen eine besondere Stellung ein, weil hier der Geist vergangener Jahrhunderte so ins Auge springt. Fast alle Häuser weisen neben den heutigen blauen Hausnummern auch noch auf roten Schildern die Konskriptionsnummern der Stadtteile auf, die 1770 zu Zeiten der Kaiserin Maria Theresia verfügt wurden. Und häufig findet man daneben, prachtvoll restauriert, auch die noch älteren Zeichen der Hausnamen: den roten Löwen, den grünen Krebs, den weißen Schwan, das goldene Rad oder das goldene Hufeisen.
    Das Haus zu den Drei Geigen besaß ein Geigenbauer, im Haus zum Goldenen Kelch wohnte ein Goldschmied. Das Haus zu den Zwei Sonnen ist ein Gasthaus, vor hundertfünfzig Jahren lebte hier der Dichter Jan Neruda, der 1877 in seinen »Kleinseitner Geschichten« das Leben in dieser Straße und in diesem Viertel höchst anschaulich geschildert und so für alle Zeiten aufbewahrt hat. Die Straße ist deshalb nach ihm benannt. Wer in den »Zwei Sonnen« die Stiege zum Gartenlokal hinabsteigt, findet dort noch den Hof und die Pawlatschen, die typischen Umgänge, fast so vor, wie Neruda sie beschrieb.
    So ist Prag – ein Schaugarten der Jahrhunderte, ein wunderbar erhaltenes Gehäuse des Gewesenen. Man lebt hier heute und gleichzeitig im Vergangenen, man hat den Wandel vor Augen. Alte Adelspaläste säumen die Nerudova, heute der Sitz von Botschaften. Und mancher andere Prachtbau ging nach dem Kollaps des Kommunismus in den Besitz moderner Finanzinvestoren über, darunter Russen, Italiener und Albaner.
    Vieles hat sich geändert in den vergangenen Jahren. Fast alle Häuser wurden restauriert, Kram- und Bäckerläden mussten Souvenirgeschäften weichen, ein Verdrängungsprozess ist im Gang. Prag ist eines der gefragtesten Reiseziele in Europa und lockt zudem Tausende Investoren an, die von hier aus ganz Mittel- und Osteuropa beackern. Prag und sein mittelböhmisches Umland gehören heute zu den fünf ökonomisch potentesten Regionen der EU . Das setzt epochale Metamorphosen in Gang, die mit Händen zu greifen sind.
    Und doch ist gerade auf der Kleinseite etwas vom alten Milieu geblieben, sind nachbarschaftliche und freundschaftliche Biotope noch lebendig. Man merkt es vor allem in den Kneipen, in Wirtshäusern wie »U Hrocha« (Zum Nilpferd), »U Kocoura« (Zum Kater) oder »U černého vola« (Zum schwarzen Ochsen), die mitten im teuren touristischen Umfeld als Oasen alttschechischer Gepflogenheiten überdauern. Man ist hier gerne unter sich.
    Mir gefällt es am besten in der Gaststätte »U Zavěšenýho kafé« (Zum aufgehängten Kaffee). Sie liegt im »Haus zu den Drei Äxten« in der Verlängerung der Nerudova, die Úvoz (Hohlweg) heißt und bergauf zum Abtsgarten des Klosters Strahov führt. Der Maler Jakub Kreijčí, von seinen Freunden »Kuba« genannt, hat das Wirtshaus ausgestaltet, mit Schriften, Skulpturen und Gemälden, von denen das größte ein fabelhaft-anarchisches Prager Panorama zeigt. An einer üppig beladenen Tafel vergnügen sich, bizarr verrenkt, die Granden der Prager Vergangenheit und Gegenwart, vier mittelalterliche Könige zum Beispiel, dazu der Staatsgründer Tomáš G. Masaryk, die Schriftsteller Karel Čapek, Jan Neruda und Franz Kafka, der unvermeidliche Soldat Švejk natürlich, ferner Václav Havel, James Bond und die Rolling Stones. Am Rande sitzen lebensfroh auf diesem Bild auch Kuba, der Maler, und seine Gefährtin Helena, die Wirtin, samt František I., das ist ihr Hund.
    Die Kneipen gehören zu Prag wie die Karlsbrücke, die Philharmonie, der Reformator Jan Hus und die vorzüglich funktionierende Trambahn. Kneipen sind Orte des Austauschs, der
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