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Lesereise Prag

Lesereise Prag

Titel: Lesereise Prag
Autoren: Klaus Brill
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Hypermärkten, von Lagerhallen oder Straßen, die sich in die Landschaft fressen, ebenso wie »ein gewisser Mangel an Konzeption der Stadtentwicklung«. Ihn quälen auch die Zustände im Rathaus, das unter der langjährigen Führung der konservativ-liberalen Partei der Bürgerdemokraten ( ODS ) durch eine Serie von Korruptionsskandalen sowie durch grobe Miss- und Speziwirtschaft die Wut der Bürger erregte.
    Ja, man kann sich ärgern über Prag, immer wieder. Über betrügerische Taxifahrer, über geldgierige, ungehobelte Kellner, über Taschendiebe und Autoknacker. Manchen erfüllt es auch mit Beklemmung, dass die Stadt durch die Polizei mittels mehrerer Hundert Videokameras in einer Weise überwacht wird, wie sich das einst George Orwell wohl vorgestellt hat. Aber immer wieder siegt über solche Misshelligkeiten doch das andere Prag, das Prag der edlen Töne, der versteckten Treppen und der nächtlichen Blicke auf die angestrahlte Burg. Prag bezaubert und versöhnt. Und die Geschichten, die es erzählt, versiegen nie.

In der magischen Mitte
Models, Möwen, Moldaurauschen – eine Nacht auf der Karlsbrücke
    Und mitten in der Nacht, um 1.40 Uhr, als dieser magische, ewig bevölkerte Ort der Sehnsucht sich gerade ein paar Minuten der Stille zu gönnen scheint, marschiert vom Altstädter Brückenturm her ein Brautpaar heran. Die Frau im üppigen weißen Schleppkleid mit Schleier, der Mann im schwarzen Smoking, sehr elegant. Sie kommen zielbewusst daher, ein Fotograf und ein Beleuchter folgen. Ein weiterer Helfer lenkt sogleich mit Hilfe eines silbern bespannten Schirmes das Schummerlicht einer Brückenlaterne auf die beiden Frischvermählten, die natürlich gar nicht verheiratet, sondern Models sind. Die Kamera klickt, die Arbeit beginnt, und die Nacht geht dahin. Den Passanten, die vorbeischlendern, wird ein wenig Abwechslung geboten.
    Manchmal könnte man vergessen, wozu die Karlsbrücke eigentlich gebraucht wurde, bevor die Fotografie erfunden war. Tatsächlich diente sie ja einst zur Überquerung der Moldau, mit Lasten, mit Tieren, mit Autos, sogar mit Pferde- und Straßenbahnen. Fast fünfhundert Jahre lang, bis 1841, war sie der einzige feste Übergang in Prag, heute überspannen fünfzehn Brücken die Moldau im inneren Stadtgebiet. Die Karlsbrücke als älteste, schönste und bekannteste ist seit 1965 nur noch für Fußgänger passierbar, und neuerdings scheint sie ganz für die Fremden und die Fotografen abgestellt zu sein.
    Auch nachts hört das Blitzen nicht auf. Das Brautpaar posiert gekonnt vor den Schatten des Altstädter Brückenturms und den berühmten Heiligenstatuen, natürlich gibt die Prager Burg auf dem Fels dazu die denkbar malerischste Kulisse ab. Die beiden umarmen sich, fassen einander an den Händen, dann sitzt er auf der Brüstung, sie schaut zu ihm auf. Und keiner der Vorübergehenden wundert sich, warum für Brautmoden gerade die Karlsbrücke gerade bei Nacht ein so formidables Setting abgibt. Als Schauplatz der imaginierten Gefühle ist sie schwer zu übertreffen und als historisches Bauwerk ist sie eine europäische Ikone wie der Eiffelturm oder der Rote Platz.
    Jeder, der nach Prag kommt, und das sind etwa vier Millionen Menschen im Jahr, will sie sehen und begehen und meist auch ein Erinnerungsfoto mit ihr haben. Weshalb an manchen Tagen hier bis zu dreißigtausend Menschen promenieren, die meisten am Tag, wenn entlang der Brüstung die verschiedensten Kunsthandwerker ihre Ohrgehänge, Schnellporträts und Karlsbrücken-Veduten anbieten. Hare-Krishna-Jünger zimbeln, Altprager Jazz-Combos heizen ein, Degenfechter und Feuerschlucker ziehen Menschentrauben an. Am Abend werden die Staffeleien und Verkaufstische zusammengeklappt. Nach Hause gehen auch die Bauarbeiter, die seit 2007 in einem abgesperrten Bereich der Brücke schadhafte Steine austauschen, Figuren säubern, Wetterschäden reparieren.
    Um die Frage, ob diese kosmetische Auffrischung auch die Seele des Bauwerks respektiert, hat es heftige Auseinandersetzungen gegeben. Immerhin ist dies ja eines der bedeutendsten Kulturdenkmäler des Kontinents und den Tschechen besonders teuer, da doch der Bauherr und Namensgeber ihr Kaiser Karl IV. war, ein Europäer von Format, der fünf Sprachen sprach und in die Geschichte einging mit jener »Goldenen Bulle«, die für Jahrhunderte die Wahl des römisch-deutschen Königs regelte. Den Grundstein der Karlsbrücke hat er angeblich zu einem von den Hofastrologen genauestens berechneten
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