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Lesereise Prag

Lesereise Prag

Titel: Lesereise Prag
Autoren: Klaus Brill
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Diskussion und der Entspannung, im »Aufgehängten Kaffee« kreuzt regelmäßig auch ein Singkreis auf. Früher kam von der nahen Burg manchmal Václav Havel auf ein Bier vorbei, sein Foto hängt an der Wand. Der heutige Staatspräsident Václav Klaus, als renitenter EU -Kritiker bekannt, wäre weniger willkommen; ihm zum Trotz hat Jakub Krejčí über der Tür die gestirnte blaue Europafahne aufgepflanzt. Der Name des Lokals rührt übrigens von einer alten neapolitanischen Tradition, dem »caffè sospeso«: Wer einen guten Tag hatte, zahlt an der Theke zwei Kaffee, trinkt aber nur einen, der zweite wird »aufgehängt«, also aufgehoben; ihn bekommt umsonst ein anderer, der später eintrifft und der Unterstützung bedarf. Prager Weltläufigkeiten, die nicht überall, sondern vorzugsweise in der Bierseidel-Boheme einer solchen Künstler- und Intellektuellenkneipe gedeihen.
    Wer Prag erleben und erfassen will, darf an den Kneipen so wenig vorübergehen wie an den Kathedralen und den Konzertsälen. Irgendwo wird hier immer Musik gemacht, mal schallt es aus einem offenen Fenster, mal aus einer Halle, mal aus dem Übungsraum einer Akademie. Touristen lockt man mit Klassik-Hits vom Bürgersteig hinunter in die nächste Kirche, der Connaisseur hingegen begibt sich am Nationalfeiertag, dem 28. Oktober, Jahrestag der Gründung der Tschechoslowakischen Republik anno 1918, ins Obecní Dům, das Gemeindehaus, ein Prunkstück des Jugendstils. Im Smetana-Saal bringen dort die Prager Symphoniker ein Hauptwerk der tschechischen Nationalbewegung zu Gehör, Bedřich Smetanas symphonische Dichtung »Má vlast« (Mein Vaterland), in sechs Teilen. Der zweite, »die Moldau«, ist schon zum klassischen Gassenhauer geworden, man hört das Stück bei der Ankunft im Bahnhof ebenso wie bei der Landung der ČSA -Maschinen auf dem Flughafen aus den Boxen rieseln.
    Prager Kirchen sind weniger bei den Einheimischen als bei den ausländischen Besuchern gefragt, mag der Barock mit seinen außerordentlichen Schöpfungen auch noch so locken. Die Tschechen zählen zu den ungläubigsten aller Europäer, nur vierzig Prozent gehören einer Religionsgemeinschaft an. Auch dies ist natürlich ein Erbe der Geschichte, so wie alles andere, was Prag hervorhebt aus jenem doppelten Dutzend europäischer Metropolen, die seit dem Mittelalter je eine andere Variante abendländischer Kultur in sich bündeln.
    František Palacký, der große tschechische Geschichtsschreiber und Vorkämpfer für den nationalen Staat, hat es in den Worten Ciceros auf den Punkt gebracht: Quounque incedimus, in aliquam historiam vestigium imponimus. Ja: Wohin wir in Prag auch gehen, setzen wir den Fuß in (eine) Geschichte. Und sei es eine Gruselgeschichte wie die vom Golem, jener Sagengestalt, die vor vierhundert Jahren der berühmte Rabbi Löw aus Lehm erschaffen und als stummen Diener abgerichtet haben soll. Die Legende wurde von deutschen Romantikern verbreitet und hält sich bis heute als tragendes Element jenes mystifizierenden Gemurmels, das Prag als eine vernebelte Heimstatt des Geheimnisvollen, Esoterischen sehen will. Prag ist aber sehr zeitgenössisch, sehr belebt, durch und durch erfüllt vom Smog seiner Autos und Fabriken. Prag kann auch nicht gewisse Erblasten der kommunistischen Jahrzehnte verleugnen, einen pompösen Fernsehturm zum Beispiel oder die monströsen Wohnanlagen, die in sozialistischer Plattenbauweise errichtet wurden. Sie finden sich in den peripheren Zonen, ebenso wie die Errungenschaften der boomenden Gegenwart, brandneue Shoppingmalls zum Beispiel oder blitzende Bürogebirge aus Chrom und Glas.
    In diesen Vorstädten wohnen die allermeisten Prager, aus der historischen Altstadt haben steil steigende Mieten und Immobilienpreise die Urbevölkerung längst hinausgetrieben. Auch der Ansturm von jährlich vier Millionen Touristen ist manchem Prager ein Graus. »Die Einheimischen haben die Altstadt geräumt«, konstatiert die Schriftstellerin Alena Wagnerová, »übrig blieb eine Kulisse.«
    Bei einer Meinungsumfrage im Herbst 2010 erklärte mehr als ein Drittel der befragten Prager Bürger, sie wollten die Stadt verlassen. Manche vermissen die frische Luft und die Nähe zur Natur, andere möchten ein eigenes Haus, was in Prag nur Reichen möglich ist. »Ich bin mein Leben lang ein Prager, und ich muss sagen, dass ich über gewisse Dinge ziemlich bestürzt bin«, erklärte ergrimmt Václav Havel, der frühere Staatspräsident. Ihn quälen der massenhafte Bau von
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