Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
nicht verhindern.«
    »Werden ihn im Mercantour nicht finden.«
    »Glaubst du, er hat seinen Schlafplatz woanders?«
    »Sicher, er wandert. Vielleicht der Bruder.«
    Camille machte den Fernseher aus und sah Lawrence an.
    »Von wem redest du?«
    »Der Bruder von Sibellius. Sie waren bei der Geburt fünf: zwei Weibchen, Livia und Octavia, und drei Rüden, Sibellius, Porcus der Lahme und Crassus der Kahle.«
    »Groß?«
    »Versprach ziemlich massig zu werden. Hab ihn nie ausgewachsen gesehen. Mercier hat mich daran erinnert.«
    »Weiß er, wo er ist?«
    »Nein. Mit der Ranzzeit haben sich viele Reviere verlagert. Kann dreißig Kilometer in einer Nacht zurücklegen. Wait, Mercier hat mir ein Foto von ihm gegeben. Aber da war er jung.«
    Lawrence stand auf, suchte seinen Rucksack.
    »Mist« knurrte er. »Bullshit, ich hab ihn bei der Dicken gelassen.«
    »Suzanne«, verbesserte Camille.
    »Bei der dicken Suzanne.«
    Camille zögerte, sie verspürte Lust auf einen kurzen Schlagabtausch.
    »Wenn du runtermußt«, sagte sie schließlich, »begleite ich dich. In den Toiletten tropft's.«
    »Der Dreck«, sagte Lawrence. »Stört dich der Dreck nicht?«
    Camille zuckte mit den Schultern und griff nach ihrer schweren Werkzeugtasche.
    »Nein«, sagte sie.
    In Les Écarts bat Camille um einen Eimer und einen Lappen und überließ Lawrence Suzanne und Soliman, der Kräutertee und Schnaps anbot.
    »Schnaps«, sagte Lawrence.
    Camille beobachtete, wie er es anstellte, sich in größtmöglicher Entfernung von Suzanne am Ende des Tisches niederzulassen.
    Während sie die festgefressenen Schraubenmuttern der Toilettenabflußrohre löste, fragte sich Camille, ob es möglich wäre, Lawrence zu bewegen, danke zu sagen, wenigstens danke. Nicht daß er unfreundlich war, er war nur einfach nicht liebenswürdig. Der Umgang mit Grizzlys hatte ihn nicht gerade herzliche Umgangsformen gelehrt. Und das war Camille unangenehm, selbst gegenüber einer so derben Frau wie Suzanne. Aber Camille hatte keinen Sinn für Strafpredigten. Was soll's, dachte sie, während sie die verrostete Rohrverbindung mit der Spitze eines Schraubendrehers löste. Red nicht. Misch dich nicht ein, das ist nicht dein Job.
    Aus dem Zimmer im Erdgeschoß drang undeutliches Gemurmel herauf, dann hörte sie mehrere Türen schlagen. Soliman rannte den Gang entlang, die Treppe hoch und blieb vor der Toilettentür außer Atem stehen. Camille, die noch immer kniete, hob den Kopf.
    »Morgen«, verkündete Soliman, »morgen ist die Treibjagd.«
     
    In Paris ließ Kommissar Adamsberg gedankenverloren die Fernsehbilder an sich vorüberziehen, ohne sie wirklich zu sehen. Die emphatische Reportage heute abend hatte ihm Unwohlsein bereitet. Sollte dieser blöde, blutdürstige Wolf sich nicht bremsen, würde er, Adamsberg, den paar verantwortungslosen Fleischfressern, die eines schönen Tages in einer romantischen Anwandlung die Alpen überquert hatten, nicht mehr viel Zeit geben. Diesmal hatten die Journalisten stärker an den Bildern gearbeitet. Man erkannte die dünnen braunen Linien, die die Läufe und den Rücken der italienischen Wölfe kennzeichnen. Die Kamera näherte sich den Übeltätern, deren Aussichten sich zusehends verschlechterten. Die Spannung wuchs, und das Tier ebenso. In einem Monat würde es drei Meter erreichen. Ganz normal. Adamsberg hatte schon viele Opfer ihren Angreifer beschreiben hören: riesige Kerle, Gesichtszüge von Bestien, tellergroße Hände. Dann schnappte man den Kerl, und das Opfer war bisweilen enttäuscht darüber, daß der vermeintliche Riese so armselig, so gewöhnlich war. Was ihn betraf, so hatten fünfundzwanzig Jahre bei der Polizei ihn gelehrt, die gewöhnlichen Menschen zu fürchten und den Riesen und Mißgestalteten, die seit ihrer Kindheit gelernt haben, sich abseits zu halten, damit man sie in Ruhe läßt, die Hand zu reichen. Gewöhnliche Leute verfügen nicht über diese Klugheit, sie halten sich nicht abseits.
    Adamsberg wartete, vor sich hindämmernd, die Spätausgabe der Nachrichten ab. Nicht um nochmals die zerfetzten Schafe zu sehen oder von den Großtaten des Riesenwolfs zu hören. Sondern um die Gesichter der Leute von Saint-Victor zu sehen, die am Abend auf dem Dorfplatz hin und her liefen. Rechts, gegen eine große Platane gelehnt und nur zu drei Vierteln von hinten zu sehen, stand eine junge Frau, die ihn interessierte. Lang, schmal, graue Jacke, Jeans und Stiefel, dunkle, schulterlange Haare, die Hände in den Taschen. Das war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher