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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes
Autoren: Emile Zola
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Erster Tag
I
    Als die Pilger und die Kranken, die in dem dahinrollenden Zuge dicht gedrängt auf den harten Bänken des Wagens dritter Klasse saßen, das Ave maris Stella beendigten, das sie bei dem Verlassen des Orleansbahnhofs angestimmt hatten, sah Marie, die sich, von fieberhafter Ungeduld ergriffen, halb von ihrem Schmerzenslager aufgerichtet hatte, aus dem Fenster.
    »Ah, die Befestigungen!« rief sie trotz ihres Leidens in freudig erregtem Tone. »Wir sind jetzt aus Paris heraus, wir sind abgefahren!«
    Ihr gegenüber saß ihr Vater, Herr von Guersaint, und lächelte über die Freude seiner Tochter, während der Abbé Pierre Froment, der sie mit brüderlicher Zärtlichkeit betrachtete, sich in seiner liebevollen Besorgnis vergaß und ganz laut sagte:
    »Und von jetzt an noch bis morgen früh, denn wir werden erst um drei Uhr vierzig in Lourdes sein. Über zweiundzwanzig Stunden Fahrt!«
    Es war halb sechs Uhr; die Sonne ging soeben strahlend auf in der Klarheit eines wunderbaren Morgens. Es war ein Freitag, der 19. August. Aber schon kündigten am Horizonte kleine schwarze Wolken einen furchtbaren Tag gewitterschwangerer Hitze an. Und die Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Abteile des Wagens und erfüllten sie mit goldigem, tanzenden Staube.
    Marie, die wieder in ihren Schmerz zurückgesunken war, murmelte:
    »Ja, zweiundzwanzig Stunden. Mein Gott! Wie lange ist das noch!«
    Ihr Vater half ihr, sich wieder in dem engen Behältnis zurechtzulegen, einer Art Dachrinne, in der sie nun schon seit sieben Jahren lebte. Man hatte eingewilligt, ausnahmsweise die vier Räder als Gepäck mitzunehmen, die sich auseinandernehmen ließen und dazu dienten, sie fortzubewegen. So eingeschlossen zwischen die Bretter dieses rollenden Sarges nahm sie drei Plätze auf der Bank ein. Sie lag einen Augenblick ruhig da mit geschlossenen Augenlidern, mit ihrem abgemagerten und erdfahlen Gesichte, das trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre noch kindliche Zartheit bewahrt hatte. Sie sah noch reizend aus in der Umrahmung ihrer wunderbaren blonden Haare, Haare einer Königin, vor denen selbst die Krankheit Achtung hatte. Sie trug ein sehr einfaches Kleid von geringer schwarzer Wolle, und an ihrem Halse hing die Karte mit ihrem Namen und der Ordnungsnummer. Sie hatte selbst diese ärmliche Einfachheit gewünscht, da sie den Ihrigen, die nach und nach in große Bedrängnis geraten waren, keine Kosten verursachen wollte. So kam es, daß sie sich hier in der dritten Klasse befand, in dem weißen Zuge, in dem Zuge der Schwerkranken, dem schmerzerfülltesten der vierzehn nach Lourdes gehenden Züge, an dem Tage, an dem sich außer den fünfhundert gesunden Pilgern gegen dreihundert von Schwäche erschöpfte und von Schmerzen gepeinigte Kranke herandrängten, um Frankreich von einem Ende zum andern zu durchqueren.
    Verstimmt darüber, daß er sie betrübt hatte, fuhr Pierre fort, Marie mit den zärtlichen Blicken eines älteren Bruders zu betrachten. Er hatte soeben sein dreißigstes Lebensjahr erreicht und sah bleich und zart aus, seine Stirn war breit. Nachdem er alle Vorbereitungen zur Reise getroffen hatte, hielt er es auch für seine Pflicht, sie zu begleiten, und hatte sich deshalb als Aushelfer in die Brüderschaft von Notre-Dame de Salut aufnehmen lassen. Er trug auf seiner Soutane das rote, orangegelb geränderte Kreuz der Sänftenträger. Herr von Guersaint selbst hatte nur an seinem grauen Tuchrocke das scharlachrote Pilgerkreuz befestigt. Er schien entzückt über die Reise, seine Augen schweiften überall umher, und er konnte seinen liebenswürdigen und zerstreuten Vogelkopf nicht stillhalten. Obgleich er schon die Fünfzig überschritten hatte, sah er noch recht jugendlich aus.
    In der benachbarten Wagenabteilung hatte sich trotz des heftigen Schüttelns, das der armen Marie Seufzer entpreßte, Schwester Hyacinthe erhoben, die bemerkte, daß das junge Mädchen ganz in der Sonne lag.
    »Herr Abbé, ziehen Sie doch den Vorhang herunter! Wir müssen es uns so bequem wie möglich machen und uns in unserem kleinen Reiche nach Möglichkeit einzurichten suchen.«
    In dem schwarzen Gewand der Ordensschwester, das durch die weiße Haube, den weißen Schleier und die große weiße Schürze etwas gemildert wurde, war Schwester Hyacinthe bei ihrer heldenmütigen Tätigkeit immer heiter. Ihre Jugend sprach aus ihrem kleinen, frischen Munde und strahlte aus der Tiefe ihrer schönen blauen, immer zärtlich blickenden Augen hervor. Sie war
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