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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes
Autoren: Emile Zola
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eingefallen und nach links gezogen durch das Anschwellen der Oberlippe. Er glich einer schiefen, formlosen und unsaubern Kluft. Eine blutige Flüssigkeit, vermischt mit Eiter, floß aus dieser schrecklichen schwarzblauen Wunde.
    »Oh, sehen Sie doch, Pierre!« murmelte Marie zitternd.
    Den Priester überlief ebenfalls ein Schauder, als er sah, wie Elise Rouquet vorsichtig die kleinen Brotstückchen in die blutige Öffnung schob, die ihr als Mund diente. Alle in dem Wagen waren bei diesem fürchterlichen Anblicke bleich geworden. Und der gleiche Gedanke stieg in allen diesen so hoffnungsfreudigen Seelen auf: »Oh, Heilige Jungfrau! Oh, welches Wunder, wenn ein solches Leiden geheilt würde!
    »Meine Kinder, denken wir nicht an uns, wenn wir uns wohl verhalten wollen«, wiederholte Schwester Hyacinthe, die ihr ermutigendes Lächeln bewahrt hatte.
    Und sie fing den zweiten Rosenkranz zu beten an, die fünf Mysterien: Jesus in dem Ölbaumgarten, der gegeißelte Jesus, der dornengekrönte Jesus, der kreuztragende Jesus und der am Kreuze sterbende Jesus. Dann folgte der Choral: »Ich setze mein Vertrauen, Jungfrau, in deine Hilfe ...«
    Man fuhr gerade durch Blois und war nun schon drei lange Stunden unterwegs. Marie, die ihre Augen von Elise Rouquet abgewendet hatte, ließ sie jetzt auf einem Mann ruhen, der die eine Ecke der anderen Wagenabteilung zur Linken einnahm, in der Bruder Isidor lag. Schon zu wiederholten Malen hatte sie ihn bemerkt. Er war noch jung und bescheiden in einen alten schwarzen Überrock gekleidet. Sein dünner Bart fing an grau zu werden. Klein und mager, mit einem abgezehrten, bleifarbenen und schweißbedeckten Gesichte schien er schwer zu leiden. Dennoch saß er ganz unbeweglich in seine Ecke gedrückt da, sprach mit keinem Menschen und starrte nur mit großen, weitgeöffneten Augen vor sich hin. Plötzlich bemerkte sie, wie die Augenlider herabsanken und er ohnmächtig wurde.
    Sie lenkte die Aufmerksamkeit der Schwester Hyacinthe auf ihn.
    »Liebe Schwester, sehen Sie doch! Diesem Herrn dort scheint es schlecht geworden zu sein.«
    »Welchem denn, mein liebes Kind?« »Dort drüben dem, der den Kopf zurückgelehnt hat.«
    Es entstand eine unruhige Bewegung, alle gesunden Pilger standen auf, um hinzusehen. Und Frau von Jonquière kam auf den Gedanken, Martha, der Schwester des Bruders Isidor, zuzurufen, sie solle dem Manne auf die Hände klopfen.
    »Fragen Sie ihn, fragen Sie ihn, ob er leidet!«
    Martha trat an ihn heran, schüttelte ihn und richtete wiederholt die Frage an ihn. Aber der Mann gab keine Antwort, er röchelte nur, und seine Augen blieben fest geschlossen.
    Eine Stimme rief erschrocken:
    »Ich glaube, er wird sterben.«
    Die Furcht wurde größer, Worte schwirrten hin und her, und von einem Ende des Wagens zum andern wurden Ratschläge erteilt. Niemand kannte den Mann. Er hatte sich nicht in die Hospitalität aufnehmen lassen, denn er trug am Halse nicht die Karte mit der weißen Farbe des Zuges. Einer erzählte, er hätte ihn drei Minuten vor Abgang des Zuges ankommen sehen, sich mühsam fortschleppend, und dann habe er sich mit dem Ausdrucke unendlicher Müdigkeit in die Ecke fallen lassen, in der er jetzt im Sterben läge. Dann hätte er nicht mehr geatmet. Man sah übrigens sein Billett, das in dem Bande seines alten hohen Hutes steckte, der neben ihm hing.
    Schwester Hyacinthe stieß einen freudigen Ruf aus.
    »Oh, er atmet, er atmet! Fragen Sie ihn doch nach seinem Namen!«
    Als ihn Martha aber von neuem fragte, stieß der Mann nur einen Klagelaut, den kaum verständlichen Schmerzensschrei aus:
    »Oh, wie ich leide!«
    Und von da an gab er nur diese eine Antwort. Auf alles, was man von ihm wissen wollte, wer er wäre, woher er käme, welches sein Leiden sei, was man für ihn tun könnte, antwortete er nicht, sondern stieß nur fortwährend den Klageruf aus:
    »Oh, wie ich leide ... Oh, wie ich leide!«
    Schwester Hyacinthe geriet in fieberhafte Aufregung. Wenn sie sich nur in der gleichen Abteilung befunden hätte! Und sie nahm sich vor, auf der nächsten Station, an der man halten würde, den Platz zu wechseln. Aber es kam jetzt lange keine Haltestelle. Der Kopf des Mannes sank immer tiefer herab.
    »Er stirbt, er stirbt!« rief die Stimme von neuem.
    Mein Gott! Was sollte man anfangen? Die Schwester wußte, daß ein Pater von Mariä Himmelfahrt sich im Zuge befand, der Pater Massias, der das geweihte Öl bei sich hatte und jederzeit bereit war, den Sterbenden die Letzte
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