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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes
Autoren: Emile Zola
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gleichen Tage von Orleans, Le Mans, Poitiers, Bordeaux, Marseille und Carcassone abgingen. Die Erde Frankreichs sah sich zur selben Stunde nach allen Richtungen hin durchfurcht von ähnlichen Zügen, die alle der heiligen Grotte zustrebten und dreißigtausend Pilger und Kranke zu den Füßen der Heiligen Jungfrau führten. Und er dachte daran, daß ein solcher Menschenstrom wie an diesem Tage sich auch an den anderen Tagen des Jahres dorthin wälzte, daß keine Woche verging, ohne daß Lourdes eine Wallfahrt ankommen sah, und daß nicht nur Frankreich allein, sondern daß ganz Europa, daß die ganze Welt sich auf den Weg dorthin machte, und daß es in besonders frommen Jahren dreimalhunderttausend, ja sogar bis fünfmalhunderttausend Pilger und Kranke dort gegeben hatte.
    Pierre glaubte sie zu hören, diese im Rollen begriffenen Züge, die Züge, die überallher kamen und die alle derselben Felsengrotte zustrebten, in der die Kerzen flammten. Alle rollten rasselnd dahin unter Schmerzensgeschrei und dem Rauschen der frommen Gesänge. Es waren fahrende Hospitäler voll verzweifelter Kranker, Züge menschlichen Leidens zu der Hoffnung und der Heilung; ein großes brennendes Verlangen nach Trost vor dem Drohen des schrecklichen Todes. Sie rollten dahin, sie rollten immer weiter, sie rollten ohne Unterbrechung dahin, das Elend dieser Welt mit sich führend, auf dem Wege zu einem heiligen Wahne, der Gesundheit der Kranken und dem Troste der Niedergedrückten.
    Pierres Herz floß über von unendlichem Mitleid. Es war traurig, zu sterben. Eine heiße Barmherzigkeit flammte in ihm auf, das unlöschbare Feuer einer brüderlichen Liebe zu allen Dingen und allen Wesen.
    Als man um halb elf Uhr den Bahnhof von Saint-Pierre du Corps verließ, gab Schwester Hyacinthe das Zeichen, und man betete den dritten Rosenkranz, die fünf glorreichen Mysterien: die Auferstehung unseres Herrn, die Himmelfahrt unseres Herrn, die Ausgießung des Heiligen Geistes, die Himmelfahrt der Allerheiligsten Jungfrau und die Krönung der Jungfrau. Dann sang man das Lied der Bernadette, ein endloses Klagelied von sechzehn Strophen, bei denen der englische Gruß den immer wiederkehrenden Schlußvers bildete, eine künstlich in die Länge gezogene Quälerei, die schließlich das Bewußtsein trübte und die Kranken in einen verzückten Traumschlaf versenkte in der köstlichen Erwartung des Wunders.

II
    Jetzt zogen die grünen Gefilde von Poitou vorüber, und der Abbé Pierre Froment sah, die Augen starr nach außen gerichtet, die Bäume vorbeifliegen, bis schließlich alles vor seinen Augen verschwamm. Ein Kirchturm erschien und verschwand; alle Pilger bekreuzigten sich. Man sollte um zwölf Uhr fünfunddreißig Minuten in Poitiers sein; der Zug rollte unaufhaltsam weiter und weiter in der erschlaffenden Schwüle des gewitterschwangeren Tages. Und der junge Priester verfiel in eine tiefe Träumerei. Das Singen traf sein Ohr nur noch wie das einschläfernde langsame Auf- und Abwogen des Meeres.
    Ein Vergessen der Gegenwart, ein Wiedererwachen der Vergangenheit nahm sein ganzes Wesen gefangen. Er ging in seinen Erinnerungen zurück, soweit ihm das möglich war. Er sah das Haus in Neuilly wieder, in dem er geboren worden war und das er jetzt noch bewohnte, dieses Haus des Friedens und der Arbeit mit seinem Garten, in dem schöne Bäume standen. Nur eine lebende Hecke trennte ihn von dem Garten des Hauses nebenan, das dem seinigen ähnlich war. Er war drei, vielleicht auch vier Jahre alt, und er sah, wie an einem Sommertage in dem Schatten eines alten Kastanienbaumes sein Vater, seine Mutter und sein älterer Bruder an einem Tische beim Frühstück saßen. Sein Vater, Michel Froment, hatte kein besonders auffallendes Gesicht; er sah ihn nur verwischt und unbestimmt vor sich, den berühmten Chemiker, der Mitglied des Instituts war und der sich in seinem Laboratorium vergrub, das er im Hintergrunde seines weltentlegenen Besitztums hatte errichten lassen. Seinen Bruder Guillaume, der damals vierzehn Jahre alt und am Morgen zu einem kurzen Ferienaufenthalte aus dem Lyzeum eingetroffen war, sah er ganz deutlich vor sich, und vor allem seine sanfte Mutter, aus deren Augen eine so rührende Demut sprach. Später hatte er die Sorgen dieser frommen, gläubigen Seele kennengelernt, die sich aus Achtung und Dankbarkeit dazu verstanden hatte, einen Ungläubigen zu heiraten, der fünfzehn Jahre älter als sie war und der ihrer Familie große Dienste geleistet hatte. Er
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