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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes
Autoren: Emile Zola
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vergessenen trüben Ereignisse. Es war während eines Urlaubs, den er wegen seines Gesundheitszustandes hatte nehmen müssen. Er war vierundzwanzig Jahre alt, aber in seiner Ausbildung sehr zurück, denn er hatte bis dahin erst die vier niederen Weihen erhalten. Nach seiner Rückkehr sollte er das Unterdiakonat bekommen, das ihn für immer durch einen unverletzlichen Eid band. Und die Szene trat ihm wieder vor die Augen, in dem kleinen Garten in Neuilly, der Guersaint gehörte und in den er einst so oft zum Spielen gekommen war. Man hatte unter die großen Bäume in der Nähe des Zaunes Mariens Krankenstuhl gerollt. Sie waren allein in dem trübseligen Frieden des Herbstnachmittags. Er sah Marie in tiefer Trauer um ihre Mutter halb ausgestreckt mit gelähmten Beinen daliegen, während er selbst ebenfalls schwarz gekleidet schon in der Soutane neben ihr auf einem eisernen Stuhle saß. Sie zählte achtzehn Jahre und sah sehr bleich und abgezehrt aus, ohne daß sie aufgehört hatte, anbetungswert zu sein. Er glaubte, sie wisse, daß sie für immer gelähmt und verdammt sei, niemals Mutter zu werden. Die Ärzte, die sich nicht miteinander verständigen konnten, gaben sie auf. Jedenfalls sie erzählte ihm alles das an jenem trübseligen Nachmittage, indes die welken Blätter auf sie herabregneten. Aber er erinnerte sich nicht mehr ihrer Worte, nur ihr trauriges Lächeln, ihr noch so jugendlich reizendes und doch schon durch den Verzicht auf das Leben gezeichnetes Gesicht waren ihm gegenwärtig. Dann dachte er daran, wie sie den Tag ihrer Trennung ihm ins Gedächtnis zurückrief, ihrer Trennung auf der gleichen Stelle hinter der von den Sonnenstrahlen durchschienenen Hecke. Alles dies war tot, ihre Tränen, ihre Umarmung, ihr Versprechen, sich eines Tages wiederzufinden in der Gewißheit ihres Glückes. Sie hatten sich wiedergefunden, aber was nützte ihnen das jetzt, wo sie ja wie tot war und er im Begriffe stand, für das Leben dieser Welt zu sterben? Von dem Augenblicke an, da es gewiß war, daß sie nicht mehr Frau, weder Gattin noch Mutter werden würde, konnte auch er darauf verzichten, Mann zu sein, und konnte ganz in dem Gott aufgehen, dem seine Mutter ihn geweiht hatte. Er fühlte noch die süße Bitterkeit dieser letzten Zusammenkunft in sich. Marie lächelte schmerzlich über ihre alten Träume und sprach von dem Glück, das er in dem Dienste Gottes finden würde, und er war gerührt bei dem Gedanken, daß sie sich von ihm hatte versprechen lassen, sie zur Anhörung seiner ersten Messe einzuladen ...
    Auf der Station Sainte-Maure entstand ein Lärm, der die Aufmerksamkeit Pierres wieder auf seine Umgebung in dem Wagen richtete. Er glaubte, es wäre irgendein Unfall vorgekommen. Aber die Leidensgesichter, denen seine Augen begegneten, waren noch dieselben, zeigten noch dieselben schmerzverzerrten Züge und die angstvolle Erwartung auf die göttliche Hilfe, die nur langsam herankam. Frau von Jonquière hatte ein Zinngeschirr, das sie reinigte, auf den Boden fallen lassen. Sofort ließ die Schwester Hyacinthe den Rosenkranz von neuem beten, wobei sie mit dem Angelus noch wartete, das nach dem festgestellten Programm erst in Châtellerault gebetet werden sollte. Die Ave folgten rasch aufeinander, es war nur noch ein dumpfes Murmeln, das in dem Lärm und dem Rasseln der Räder sich verlor.
    Pierre zählte sechsundzwanzig Jahre und war Priester. Noch einige Tage vor seiner Weihe waren ihm Bedenken gekommen. Das dumpfe Bewußtsein bedrückte ihn, daß er sich binden wollte, ohne sich streng geprüft zu haben. Aber er hatte absichtlich unterlassen, dies zu tun, da er glaubte, mit einem einzigen Entschluß alle Menschlichkeit in sich ertötet zu haben. Sein Fleisch war mit dem unschuldigen Romane seiner Kindheit abgestorben. Er hatte seine Vernunft zum Opfer gebracht in der Hoffnung, das Wollen an sich genüge, das Denken sei gar nicht nötig. Jetzt war es zu spät. Er konnte im letzten Augenblicke nicht zurücktreten. Und wenn er in der Stunde, in der er den Schwur leistete, von einem geheimen Schrecken sich gepackt gefühlt hatte, von einem unendlichen, ungeheuren Bedauern, so hatte er alles vergessen und war göttlich belohnt worden für sein Opfer an dem Tage, als er seiner Mutter die große, lange ersehnte Freude bereitet hatte, ihn seine erste Messe lesen zu hören. Er sah sie noch, seine arme Mutter, in der kleinen Kirche zu Neuilly, in der das Leichenbegängnis seines Vaters gefeiert worden war; er sah sie noch,
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