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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes
Autoren: Emile Zola
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zum andern Gehör zu verschaffen.
    »Auf, auf! Denken wir nicht an unsere kleinen Schmerzen! Wir wollen beten und singen, die Heilige Jungfrau wird mit uns sein!«
    Sie fing den Rosenkranz an, dann die Gebete von Notre-Dame de Lourdes, und alle Kranken und Pilger folgten ihrem Beispiele. Es war der erste Rosenkranz, die fünf freudigen Mysterien, die Verkündigung, die Heimsuchung, die Geburt Christi, die Reinigung Maria und der wiedergefundene Jesus. Dann stimmten alle den Choral: »Betrachten wir den himmlischen Erzengel«, an. Die Stimmen vermischten sich mit dem Rasseln der Räder. Man hörte nur das mächtige Rauschen dieses ohne Unterlaß rollenden Stromes menschlicher Stimmen, das im Hintergrunde des Wagens erstickte.
    Obgleich darin geübt, kam Herr von Guersaint doch niemals zum Schlusse eines Chorals. Bald stand er auf, bald setzte er sich wieder. Schließlich stützte er sich mit den Ellenbogen auf die Zwischenwand und unterhielt sich halblaut mit einem Kranken, der mit dem Rücken gegen diese Zwischenwand in der nächsten Abteilung saß. Herr Sabathier war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, von untersetzter Gestalt, mit einem guten, dicken Gesicht und einem vollständigen Kahlkopfe. Seit fünfzehn Jahren war er gelähmt, Schmerzen litt er nur zuweilen, aber seine Beine waren vollständig gelähmt, und seine Frau, die ihn begleitete, legte sie wie tote Beine von einer Stelle zur andern, wenn sie ihm schließlich so schwer wurden wie Bleiklumpen.
    »Ja, mein Herr, wie Sie mich sehen, bin ich ehemaliger Professor der fünften Klasse am Lyceum Charlemagne. Anfangs glaubte ich, es wäre einfach Hüftweh. Dann aber hatte ich brennende Schmerzen, wissen Sie, ungefähr so, als bekäme ich Stiche mit glühenden Degen in die Muskeln. Seit beinahe zehn Jahren bin ich allmählich ganz davon ergriffen worden. Ich habe alle möglichen Ärzte konsultiert, ich habe alle nur erdenklichen Bäder besucht, und jetzt leide ich allerdings weniger, aber ich kann mich nicht in meinem Stuhle rühren. Da bin ich denn wieder zu Gott zurückgeführt worden durch den Gedanken, daß ich zu unglücklich wäre und daß unsere liebe Frau von Lourdes nichts anderes tun könne, als Mitleid mit mir haben.«
    Pierre hatte, von Teilnahme ergriffen, sich auch auf die Zwischenwand gestützt und hörte zu.
    »Nicht wahr, Herr Abbé, das Leiden ist der beste Erwecker der Seelen? Jetzt ist es schon das siebente Jahr, daß ich nach Lourdes gehe, ohne an meiner Heilung zu verzweifeln. Und dieses Jahr wird mich die Heilige Jungfrau wieder gesund machen, davon bin ich fest überzeugt. Ja, ich rechne darauf, wieder gehen zu können, ich lebe nur noch von dieser Hoffnung.«
    Herr Sabathier unterbrach sich, er wollte, daß seine Frau ihm die Beine mehr nach links schieben sollte. Und Pierre betrachtete ihn und wunderte sich, diese Hartnäckigkeit des Glaubens bei einem Gelehrten, bei einem Universitätslehrer zu finden. Wie hatte der Glaube an das Wunder in diesem Gehirn Wurzel fassen und weiter keimen können? Es war wirklich so, wie er selbst sagte: nur die heftigsten Schmerzen erklärten dieses Bedürfnis der Einbildung, diese Blütezeit der ewigen Trösterin.
    »Und wie Sie sehen, sind wir, ich und meine Frau, gekleidet wie Arme, denn ich will dieses Jahr nur ein Armer sein, damit die Heilige Jungfrau mich zu den Unglücklichen, ihren Kindern, rechnet... Da ich aber nicht den Platz eines wirklichen Armen einnehmen wollte, so habe ich bei dem Hospital fünfzig Frank eingezahlt, was, wie Sie ja wissen, dazu berechtigt, daß ein besonderer Kranker mitgeführt wird... Ich kenne ihn sogar, meinen Kranken. Man hat ihn mir gleich auf dem Bahnhofe vorgestellt. Es ist ein Tuberkuloser, wie es scheint, und er ist mir sehr krank vorgekommen, sehr krank...«
    Es entstand eine Pause.
    »Nun, die Heilige Jungfrau möge auch ihn retten, sie, die alles kann! Und ich werde so glücklich sein, denn sie wird mich mit ihren Wohltaten überschütten!«
    Die drei Männer fuhren fort, sich zu unterhalten, indem sie sich von den anderen absonderten und zuerst über Medizin sprachen und dann zu einer Erörterung über romanische Baukunst übergingen, veranlaßt durch einen auf einem Hügel gelegenen Glockenturm, den alle Pilger mit einem Kreuzzeichen begrüßt hatten. Mitten unter diesen armen Kranken, mitten unter diesen durch das Elend stumpfsinnig gewordenen Menschen vergaßen sich der junge Priester und seine beiden Gefährten, von den Gewohnheiten ihres gebildeten
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