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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht
Autoren: Fred Vargas
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erledigt.
    Niemand hatte je nach dem kleinen Soliman Melchior Samba Diawara gesucht. Und manchmal fragte man sich, was auf Les Écarts geschehen wäre, wenn die leibliche Mutter auf den Gedanken gekommen wäre, ihn zurückzuholen. Denn Suzanne Rosselin hatte seit diesem entscheidenden Moment - den man im Dorf »den Tag auf der Kirchentreppe« nannte - entschieden Zuneigung zu dem Kleinen gefaßt, und es wurde allgemein daran gezweifelt, daß sie ihn kampflos zurückgegeben hätte. Nach zwei Jahren hatte der Notar sie dazu gebracht, den Papierkram für das Kind zu erledigen. Nicht, den Kleinen zu adoptieren, dazu hatte sie kein Recht, aber die Vormundschaft zu legalisieren.
    Auf diese Weise war der kleine Soliman zum Sohn Rosselin geworden. Suzanne hatte ihn wie einen Jungen aus der Gegend aufwachsen lassen, ihn dabei aber heimlich wie einen afrikanischen König erzogen, weil sie unterschwellig davon überzeugt war, daß ihr Kleiner ein unehelicher, aus dem Weg geräumter Prinz eines mächtigen Königreichs sei. So schön, wie er geworden war - schön wie ein Gott -, wäre das auch das mindeste. Daher wußte der junge Soliman Melchior mit dreiundzwanzig Jahren genausoviel über Tomatenstecklinge, Olivenpressen, Kichererbsenschößlinge und das Ausbringen von Jauche wie über die Sitten und Gebräuche des großen Schwarzen Kontinents. Alles, was er über Schafe wußte, hatte der Wacher ihm beigebracht. Und alles, was er über Afrika wußte, alles Glück und Unglück, alle Sagen und Legenden des Kontinents hatte er aus den Büchern, die ihm Suzanne gewissenhaft vorgelesen hatte - eine Tätigkeit, über der sie selbst zu einer fachkundigen Afrikanistin geworden war.
    Noch heute achtete Suzanne im Fernsehen auf jeden ernsthaften Dokumentarfilm, der geeignet schien, den Jungen zu bilden: die Reparatur eines Tanklastwagens auf einer Piste in Ghana, grüne Meerkatzen aus Tansania, Polygamie in Mali, Diktaturen, Bürgerkriege, Staatsstreiche, Aufstieg und Glanz des Königreichs Benin.
    »Sol«, rief sie, »beweg deinen Hintern! Im Fernsehen kommt was über dein Land.«
    Suzanne hatte sich nie entscheiden können, aus welchem Land Soliman nun stammte, und so ging sie aus praktischen Gründen davon aus, daß ganz Schwarzafrika ihm gehören würde. Und es kam überhaupt nicht in Frage, daß Soliman auch nur einen einzigen Dokumentarfilm verpaßte. Mit siebzehn hatte der junge Mann ein einziges Mal versucht aufzubegehren.
    »Ich hab mit diesen Typen nichts zu schaffen«, hatte er angesichts einer Reportage über Warzenschweinjagden gejammert.
    Und zum ersten und letzten Mal hatte Suzanne ihm eine Backpfeife verpaßt.
    »Red nicht so über deine Herkunft!« hatte sie befohlen.
    Und da Soliman den Tränen nahe war, hatte sie versucht, es ihm sanfter zu erklären, während sie ihre dicke Hand auf die zarte Schulter des Kleinen drückte.
    »Wir scheißen auf das Vaterland, Sol. Man wird geboren, wo man eben geboren wird. Aber versuch nicht, deine Vorfahren zu leugnen, das bringt dich in eine blöde Situation. Verleugnen ist nicht gut. Verleugnen, abstreiten, drauf spucken, das ist was für die Frustrierten, die Kraftprotze, die Typen, die glauben wollen, daß sie sich ganz allein erschaffen haben. Arschlöcher halt. Du hast Les Écarts und dann noch ganz Afrika. Nimm das alles, und du bist doppelt so viel.«
    Soliman führte Camille in den Schafstall und deutete auf die blutigen Tiere, die aufgereiht auf dem Boden lagen. Camille sah sie aus sicherer Entfernung an.
    »Was sagt Suzanne?« fragte sie.
    »Suzanne ist gegen die Wölfe. Sie sagt, daß da nichts Gutes bei rauskommt. Daß dieses Tier aus Lust am Töten angreift.«
    »Ist sie für die Treibjagd?«
    »Sie ist auch gegen die Treibjagden. Sie sagt, daß man ihn nicht schnappen wird, daß er woanders ist.«
    »Und der Wacher?«
    »Der Wacher ist trübsinnig.«
    »Ist er für die Treibjagd?«
    »Ich weiß es nicht. Seitdem er die Schafe gefunden hat, hat er keinen Ton gesagt.«
    »Und du, Soliman?«
    In diesem Augenblick betrat Lawrence den Stall. Er rieb sich die Augen, um sie an die plötzliche Dunkelheit zu gewöhnen. Der alte Raum stank stark nach fettiger Wolle und alter Pisse, er fand die Franzosen schmuddelig. Könnten mal saubermachen. Ihm folgte Suzanne, die Lawrences Ansicht nach ebenfalls stank, sowie in respektvollem Abstand die beiden Gendarmen und der Fleischer, den Suzanne erfolglos wegzuschicken versucht hatte. »Ich hab den Kühlraum, ich nehm die Schafe mit«,
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