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Idol

Idol

Titel: Idol
Autoren: R Merle
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    |5| VORWORT
    Dieser Roman spielt zwar Ende des 16. Jahrhunderts, ist jedoch keine Fortsetzung von »Fortune de France« und hat folglich
     nichts mit dem Leben und den Abenteuern des Pierre de Siorac zu tun. Ort der Handlung ist Italien, und alle Personen, seien
     sie nun Römer, Venezianer oder Florentiner, sind Bewohner dieser Halbinsel. Das ist der Grund, weswegen ich ihre Geschichte
     nicht in dem alten Französisch erzählen konnte, das mir während der neunjährigen Arbeit an meiner historischen Chronik so
     viel Mühe, aber auch so viel Freude gemacht hat. Es versteht sich von selbst, daß es wenig überzeugend gewirkt hätte, italienischen
     Romanfiguren französische Archaismen in den Mund zu legen.
    Ich erfuhr zum ersten Mal von Vittoria Peretti, der Heldin meines Buches, als ich vor vierzig Jahren ein elisabethanisches
     Drama von Webster übersetzte, ein brillantes, wenn auch unausgewogenes Werk in einer Sprache, die die Shakespearesche Sprache
     geradezu schmucklos erscheinen läßt.
    Erst zehn Jahre später, bei der Lektüre der »Italienischen Chroniken« von Stendhal, wurde mir bewußt, wie himmelschreiend
     ungerecht Webster über Vittoria urteilt. Es kann natürlich sein, daß er schlecht informiert war, doch wie konnte er sich,
     obwohl die Tatsachen sie eindeutig als Opfer erkennen lassen, dazu versteigen, sie »weißer Dämon« – so der Titel seines Stücks
     – zu nennen, womit gemeint ist, daß in ihrem schönen Körper eine teuflische Seele wohnte? Hier zeigt sich deutlich die Frauenverachtung
     unserer Herren Puritaner! Das unglückliche Opfer wird verfolgt und gefangengehalten und soll dennoch die Missetäterin sein
     …
    Der Bericht, den Stendhal Vittoria widmet, umfaßt etwa dreißig Seiten, und trotz gegenteiliger Behauptungen, die man mitunter
     hört, handelt es sich nicht um ein originales Werk, sondern um die wörtliche Übersetzung einer alten Chronik, die |6| unseren Autor, stets fasziniert von großen Leidenschaften und starken Charakteren, gefesselt haben muß.
    1957 schrieb ich auf der Grundlage dieser Chronik eine kurze Erzählung, die mich hinterher nicht befriedigte. Doch ich brauchte
     noch einige Zeit, um den Grund dafür herauszufinden.
    Vittoria war gut, intelligent, kultiviert und großherzig. Doch nicht wegen dieser Tugenden wurde sie abgöttisch verehrt, sondern
     weil in einer von Männern beherrschten Gesellschaft die weibliche Schönheit überschätzt wird. Diese Überschätzung ist nicht,
     wie man annehmen könnte, für die Moral gefährlich, sondern für die betroffene Frau.
    In unserer Zeit wäre Vittoria ein Star gewesen, und es wäre ihr nichts Schlimmeres passiert (freilich ist das schmerzlich
     genug), als daß sie mit dem Altwerden ihre Anbeter verloren hätte. Doch die Vittoria des 16. Jahrhunderts hatte ein ganz anderes
     Leben. Sie wurde als Ehefrau an einen Mann verkauft, den sie nicht liebte. Man wachte eifersüchtig über ihre Tugend. Zweimal
     wurde sie ihrer Freiheit beraubt und mehrere Monate in der Engelsburg gefangengehalten. Sie wurde von ihrem Beichtvater belauert,
     überwacht und verraten. Ihr Name wurde öffentlich in den Schmutz gezogen, ihre zweite Ehe von einem Papst für nichtig erklärt.
    Sie stand also allein einer ganzen Gesellschaft gegenüber; um ihr Schicksal nachvollziehbar zu machen, war es notwendig, dieses
     archaische Milieu mit all seiner Brutalität und seinen Verfolgungsmechanismen zu beschreiben. Eben dies aber fehlte meiner
     kurzen Erzählung von 1957. Sie war zu linear. Sie beschrieb das Ereignis und nur unzureichend das Milieu, in dem es sich zugetragen
     hatte und aus dem heraus es sich erklärte.
    Als ich den vorliegenden Roman konzipierte, glaubte ich, meine kurze Erzählung als einen ersten Entwurf betrachten zu können,
     den ich nur einfach umschreiben müßte.
    Das erwies sich jedoch als unmöglich. Ich verstand sehr bald, daß ich alles verwerfen und neu anfangen, meine Forschungen
     wiederaufnehmen und vertiefen und zum gleichen Thema einen viel umfangreicheren und phantasievolleren Roman schreiben mußte,
     mit neuen oder anders gesehenen Helden; der menschliche Hintergrund mußte stärker herausgearbeitet |7| werden, die Erzählweise die außerordentliche Komplexität der Situation verdeutlichen, in der Vittoria kämpfte.
    Am Ende meiner Forschungen entdeckte ich, nicht ohne innere Bewegung, am Ufer des Gardasees den Palast, in dem Vittoria 1585
     ihren letzten glücklichen Sommer verlebt
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