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Asche und Phönix

Asche und Phönix

Titel: Asche und Phönix
Autoren: Kai Meyer
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oder der Arzt oder einer der Wachleute, musste die Mappe und das Buch beiseitegeräumt haben.
    Gaias Dokumente waren noch da, aber das Büchlein mit den Fabeln des Äsop fehlte. Oder, nein, es lag ein Stück weiter links am Boden, aufgeschlagen neben der Fußleiste. Als wäre es dorthin geworfen worden.
    Offenbar mochte irgendwer keine Geschichten über Tiere.
    Zoe folgte Rosas Blick, runzelte die Stirn und ging leicht humpelnd zu dem winzigen Band hinüber. Sie keuchte vor Schmerz, als sie sich bückte und ihn aufhob. Rosa hätte jede Wette abgeschlossen, dass jene Zoe, die bis vor zwei Jahren in den USA gelebt hatte, nie von einem griechischen Sklaven namens Äsop gehört hatte. Jetzt aber genügte ein flüchtiger Blick auf den Titel, um sie in Rage zu bringen.
    »Hat Alessandro dir das gegeben?«
    Rosa ballte im Bettzeug die Hand zur Faust. »Das geht weder dich noch Florinda irgendwas an.«
    »Er spielt mit dir!«
    »Indem er mir ein Buch schenkt?«
    Zoe schleuderte den kleinen Lederband zu ihr auf die Bettdecke, schüttelte heftig den Kopf und humpelte zur Tür.
    »Scheiße, was soll das alles?«, brüllte Rosa sie an.
    Zoe blieb stehen, die Klinke schon in der Hand, und blickte sich zu ihr um. »Er mischt sich in Dinge ein, die ihn nichts angehen. Und bild dir ja nicht ein, dass er das deinetwegen tut.«
    Sie zog die Tür auf, verharrte erneut, diesmal mit dem Rücken zu Rosa, als wartete sie auf einen weiteren Ausbruch.
    Rosas Stimme wurde eisig. »Vielleicht versenken die Carnevares Leichen in Seen«, sagte sie leise, »aber was treibt ihr eigentlich da draußen im Wald?«
    Zoe erstarrte, schien sich abermals umdrehen zu wollen, blieb dann aber stehen. Die Sekunden verstrichen.
    Rosa starrte auf Zoes Rücken. »Du musst mir helfen.«
    »So?«
    »Ich brauche deinen Wagen.«
    Zoe atmete scharf aus. »Der Schlüssel steckt«, flüsterte sie im Hinausgehen.

Castello Carnevare
    D as Navigationsgerät führte sie nach Genuardo. Sie hatte vorgehabt, dort den weiteren Weg zum Castello Carnevare zu erfragen, aber das erwies sich als unnötig. Die Festung des Clans erhob sich auf einem Gipfel über dem Dorf, ein mittelalterlicher Koloss aus gelbbraunen Bruchsteinmauern, der von außen so wohnlich aussah wie ein Haufen Hinkelsteine.
    Die Straße führte in engen Serpentinen den Berg hinauf. Unterwegs, schon vor dem Dorf, waren ihr mehrere Wachtposten aufgefallen. Ein Motorradfahrer, der am Straßenrand so tat, als überprüfe er seinen Auspuff. Ein Mann mit Fernglas, der in einer Parkbucht auf seiner Motorhaube saß und vorgab, die Vögel in den Felsen zu beobachten. Wahrscheinlich gehörte sogar der halbwüchsige Junge dazu, der an der Gabelung zur Bergstraße einen Hund spazieren führte, telefonierte und dabei verstohlen ihren Wagen musterte. Sicher waren ihr noch ein paar andere entgangen. Aber niemand hielt sie auf.
    Sie lenkte Zoes Porsche Cabrio auf das Tor der Burg zu. Aus der Nähe wirkte die Fassade so wenig einladend wie vom Fuß des Berges aus, aber sie sah jetzt, dass die historischen Mauern täuschten. Die Dächer waren mit glasierten Keramikziegeln gedeckt. In die uralten Wände hatte man moderne Fensterrahmen eingelassen. Das eiserne Hoftor konnte niemand passieren, ohne von mehreren Kameras beobachtet zu werden. Dass es offen stand, war der letzte Beweis dafür, dass sie erwartet wurde.
    Im Schritttempo fuhr sie in den Tortunnel. Gleich zweimal rumpelten ihre Räder über Roste aus verschränkten Stahldornen, die im Ernstfall aufgerichtet werden konnten. Weitere Kameras schwenkten ihr nach, während sie auf den Innenhof der Festung rollte.
    Der weitläufige Platz war mit Palmen, Orchideen und Kletterrosen bewachsen. Riesige Buchsbäume waren zu sitzenden Tieren zurechtgestutzt. Rosa glaubte erst, sie sollten Hunde darstellen, aber bei genauerem Hinsehen entpuppten sie sich als mannshohe Katzen. Sie hatte einen finsteren Stammsitz wie aus einem Schauerroman erwartet. Stattdessen fand sie gepflegte Gartenkunst vor, mit plätschernden Springbrunnen und einer Voliere voller Singvögel auf der anderen Seite des Hofs.
    Im Halbdunkel offener Garagentore blitzten die Karosserien polierter Oldtimer. Etwas wuselte zwischen ihnen hindurch – ein schwarzer Hund. Sarcasmo! Er erkannte sie wieder, wedelte mit dem Schwanz – und fuhr plötzlich herum, als hätte ihn jemand aus den Schatten zu sich gerufen. Vielleicht Fundling, doch sie konnte ihn nirgends entdecken.
    Auf Balkonen mit Steingeländern saßen
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