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Shadow Guard: So still die Nacht (German Edition)

Shadow Guard: So still die Nacht (German Edition)

Titel: Shadow Guard: So still die Nacht (German Edition)
Autoren: Kim Lenox
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Prolog
    »Sie haben uns gefunden.« Professor Limpett kam ins Zelt gestürzt. Eiskristalle glitzerten in seinem grauen Bart, und in den Maschen seiner Wollmütze und auf den Schultern seines schweren Mantels hatte sich Schnee festgesetzt.
    Mina blickte von der Kladde auf, in die sie im Licht einer Öllaterne gerade die Koordinaten ihres Lagers eingetragen hatte. Leutnant Maskelyne, ihr britischer Führer, hatte sie ihnen mitgeteilt. Mit den Handschuhen, die sie trug, konnte sie den Stift kaum halten, und trotz des Feuers, das in dem kleinen Ofen hinter ihr brannte, war sie in so viele Schichten wollener Kleidung eingemummelt, dass sie kaum die Ellbogen beugen konnte. Ein stürmischer Wind zerrte am Leinenzelt. Die Zeltwände flatterten, und die Abspannseile knarrten.
    »Wir bekommen Besuch?«, fragte sie. Vielleicht war es einer der einheimischen Stammesführer – wie an vielen anderen Orten, wo sie während ihrer Expedition durch Indien nach Tibet ihr Lager aufgeschlagen hatten. »Soll ich Tee kochen?«
    Einige Blätter Tee und eine halbe Dose gefrorene Kekse waren alles, womit sie ihre Gastfreundschaft zeigen konnten.
    Zwei Nächte zuvor – sie hatten gerade erst den Rückweg von dem Bergtempel, ihrem Reiseziel, angetreten – war einer ihrer Sherpas aus dem Lager verschwunden. Sie hatten ihn am nächsten Morgen gefunden, blutverschmiert, mit gebrochenen Gliedern und tot am Grund einer Felsspalte. Das ganze Lager war in Aufruhr gewesen. Gerüchte über flüsternde Nebel und lebende Schatten hatten unter den bengalischen Lastenträgern die Runde gemacht. Aber es war noch schlimmer gekommen: An diesem Morgen hatten die englischen Reisenden feststellen müssen, dass über Nacht mehr als die Hälfte der Bengalis zusammen mit dem größten Teil der Vorräte und Lasttiere verschwunden war. Leutnant Maskelyne hatte sofort nach Ersatzvorräten aus Yangpoong schicken lassen. Weil sie die Reise nach Kalkutta nicht fortsetzen konnten, bis die notwendigen Dinge eingetroffen waren, blieb den Mitgliedern der Expedition nichts anderes übrig, als abzuwarten, dezimiert und unleugbar beunruhigt über die Ereignisse der vergangenen Tage. Obwohl Mina den Verdacht nicht laut ausgesprochen hatte, war es beinahe so, als hätte ein Fluch die Expedition befallen, nachdem die tibetischen Mönche ihnen vier uralte Elfenbeinstäbe überlassen hatten, von denen je eine an den Anfang und eine ans Ende einer Schriftrolle gehörten. Der Klang der Tempelgongs hallte noch immer in Minas Ohren wider.
    Statt ihre Frage zu beantworten, zog ihr Vater den Vorhang beiseite, der ihre Schlafplätze voneinander trennte. Er beugte sich über seine hölzerne Pritsche und tastete suchend unter den Kissen. »Ich habe dich in schreckliche Gefahr gebracht, als ich dir erlaubt habe, mich auf dieser Reise zu begleiten.«
    Mina schob die Kladde langsam zur Seite und bemühte sich um einen unbeschwerten Ton. »Nein, das hast du nicht, Vater. Dergleichen passiert eben. Erinnerst du dich an den Tag in Gangtok, als man unsere Pferde stahl und wir fast eine Woche festsaßen?« Sie rieb ihre noch in den Handschuhen steckenden Hände. »Unsere Vorräte werden morgen oder vielleicht übermorgen eintreffen, und wir werden unseren Abstieg wie geplant fortsetzen.«
    »Ich rede nicht von Vorräten.« Als er sich umdrehte, hielt er eine Pistole in der Hand. »Sondern davon, dass sie uns gefunden haben.«
    Sie starrte die Waffe an. Ein Schauer, der nichts mit der Temperatur im Zelt zu tun hatte, lief ihr über den Rücken. »Sag mir, wer, Vater. Wer hat uns gefunden?«
    Der Professor benahm sich schon seit Monaten seltsam, seit das Britische Museum ihn bezichtigt hatte, sich Museumsartefakte »zweckwidrigerweise ausgeborgt« zu haben. Seine Vorgesetzten hatten ihn gezwungen, seine Stelle als Sprachforscher aufzugeben.
    Mina fragte sich wieder einmal, ob die Anspannung ihn nicht an die Grenzen seiner emotionalen Belastbarkeit getrieben hatte, denn seit diesem Zeitpunkt zeigte das, was er sagte und tat, Züge von Verfolgungswahn. Sie hatte ihm strengste Verschwiegenheit schwören müssen, worauf er ihr von einer Geheimgesellschaft von Männern erzählt hatte, die wie er die Geheimnisse der Unsterblichkeit zu entdecken wünschten – aber aus dunklen und niederträchtigen Gründen. Er hatte sie gewarnt, dass diese Männer alles tun würden, um die beiden uralten akkadischen Schriftrollen in ihren Besitz zu bringen – die Schriftrollen, die er gegenwärtig in einem verschlossenen
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