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Die Todesbotschaft

Die Todesbotschaft

Titel: Die Todesbotschaft
Autoren: Sabine Kornbichler
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ir werden Ihnen helfen, die Wirklichkeit zu akzeptieren, wie sie ist«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Damit Sie irgendwann aufhören können, sich in Träume zu flüchten. Ganz kleine Schritte genügen. Jeder davon wird ein großer Erfolg sein. Sie haben Zeit. Innerhalb dieser Mauern drängt Sie niemand. Hier sind Sie geschützt. Und Sie geben das Tempo vor.«
    Gesa versuchte, sich durch den Nebel zu kämpfen, um Doktor Radolf klar sehen zu können. Sein Gesicht hob sich vom Weiß des Kittels ab. Es war ein freundliches Gesicht, eines, dem selbst die Schatten unter den Augen nichts von seiner Helligkeit nehmen konnten. Sie versuchte, sein Alter zu schätzen. Wenn es ihr gelang, war das doch ein Zeichen, oder? Ein Zeichen dafür, dass ihr Kopf wieder funktionierte. Sie strengte sich an, damit ihr nichts entging, nicht die kleinste Falte, die ihr einen Hinweis liefern konnte. Schließlich atmete sie mit einem leisen Stöhnen aus und wagte sich an eine Einschätzung. Ihr Arzt sah älter aus als Alexander. War er vierzig? Oder doch eher fünfundvierzig? Gesa traute sich nicht, ihn zu fragen. Sie musste richtigliegen, ihm beweisen, dass es ihr besserging. Sie durfte es nicht verderben.
    »Worüber möchten Sie heute sprechen, Gesa?« Seine Stimme war voller Wärme, als gebe es tief in ihm ein unerschöpfliches Kraftwerk.
    »Wie erinnert man sich?«, fragte sie.
    »Indem man die Angst überwindet. Die Angst vor dem, was geschehen ist.«
    Gesa sah auf ihre Nägel, die brüchig geworden waren vom vielen Kauen. Vor dem, was geschehen ist, wiederholte sie seine Worte in Gedanken und sehnte sich das Spiel aus Kindertagen herbei. Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist blau. Warum konnte er ihr nicht wenigstens einen kleinen Hinweis geben? Dann hätte sie eine Chance. Sie hob den Blick von ihren Fingern und sah an ihm vorbei durch das Fenster in seinem Rücken. Der Wind fuhr in die Blätter der ausladenden Buche. Sie stellte sich vor, wie sie raschelten.
    »Gesa?«, holte Doktor Radolf sie in sein Zimmer zurück.
    Sie versuchte, aufrecht zu sitzen, sich nicht hängenzu lassen. »Wie überwindet man die Angst?«
    »Indem man sich ihr langsam nähert. Auf Umwegen.«
    Sie runzelte die Stirn und versuchte, sich einen solchen Umweg auszumalen. Aber es wollte ihr nicht gelingen. Sie hatte noch nie einen Umweg eingeschlagen.
    »Manchmal hilft es, einen großen Bogen zu machen, auf einen Hochsitz zu steigen und durch ein Fernglas zu schauen. Vielleicht zeigt sich dann in weiter Ferne die Angst auf einer Lichtung. Man kann sie betrachten, ohne Gefahr zu laufen, von ihr gepackt zu werden.« Er neigte den Kopf ein wenig und betrachtete sie. Sein Blick schien sie einzuladen, ihn auf diesen Ausflug zu begleiten. »Wenn Sie mögen, Gesa, leiste ich Ihnen auf diesem Hochsitz Gesellschaft.«
    »Man braucht viel Geduld, um dort zu sitzen und zu warten«, meinte sie leise. »Es könnte sein, dass sich auf der Lichtung nichts bewegt.«
    »Vielleicht nicht beim ersten und möglicherweise auch nicht beim zweiten Mal. Aber irgendwann wird sich dort etwas bewegen. Ganz sicher, Gesa.« Sein Lächeln war voller Zuversicht und Wärme.
    Sie hätte diese Wärme gerne in jedem Moment gespürt, wäre ihm am liebsten wie ein Schatten durch seinen Tag gefolgt. Solange bis die Schwester ihr die Tablette gab, die sie ins Nichts gleiten ließ. In dieses Nichts, das dem Grübeln für kurze Zeit ein Ende setzte.

[home]
    1
    U nten im Hof hielten die Spatzen ein Palaver ab, als gelte es, einen Lautstärkerekord zu brechen – und das ausgerechnet um Viertel vor sieben am Samstagmorgen. Eigentlich liebte ich diese gefiederten Spitzbuben. Nach einer durchtanzten Nacht wünschte ich mir hingegen nur, der Kater aus dem Erdgeschoss würde sich kurz im Hof blicken lassen. Aber vermutlich lag er faul auf der Fensterbank und erholte sich von seinen nächtlichen Streifzügen.
    Genervt schlug ich die Decke zurück und setzte mich auf. Fast augenblicklich begann es, in meinem Kopf zu hämmern. Während ich mich mit einem Stöhnen vorsichtig zurücksinken ließ, bereute ich jeden einzelnen Cocktail, den ich getrunken hatte. Sie hatten fruchtig ausgesehen und auch so geschmeckt. Ich versuchte, mich zu erinnern, wie viele ich getrunken hatte, gab es jedoch schnell auf. Der Schmerz in meinem Kopf machte selbst simpelste Additionen unmöglich.
    Ich ließ ein paar Minuten verstreichen und versuchte dann noch einmal, mich aufzusetzen. Langsamer diesmal. Als meine Füße
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