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Archer Jeffrey

Archer Jeffrey

Titel: Archer Jeffrey
Autoren: Der Aufstieg
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1900 – 1919
    1
    »Der ‘ier kostet keine zwei Pence!« pflegte mein Großvater mit lauter Stimme zu rufen, wobei er einen Kohlkopf mit beiden Händen in die Höhe hielt. »Er kostet nicht mal andert’alb Pence! Nein, ich schenk’ ihn euch für einen lumpigen Penny !«
    Das waren die ersten Sätze, an die ich mich erinnern kann. Ich hatte noch nicht laufen gelernt, da setzte meine älteste Schwester mich schon in einer Apfelsinenkiste neben Großpapas Standplatz ab, um sicherzugehen, daß ich früh genug mit meiner Lehrzeit anfing.
    »Der Kleine ‘ier schaut schon mal nach dem Rechten«, erklärte mein Großvater dann seinen Kunden, wenn ich aus der Kiste hervorlugte. Tatsächlich war mein erstes Wort »’o’papa« und mein zweites »Penny«, und schon vor meinem dritten Geburtstag konnte ich die Anpreisungen meines geschäftstüchtigen Großvaters Wort für Wort nachplappern.
    Nicht daß auch nur einer in meiner Familie genau gewußt hätte, an welchem Tag ich geboren war. Mein Vater hatte die Nacht in einer Ausnüchterungszelle verbracht, und meine Mutter starb, noch ehe ich meinen ersten Atemzug tat. Großpapa meinte, es könnte ein Samstag gewesen sein, glaubte sich zu erinnern, daß es im Januar gewesen war, war sich ziemlich sicher, daß man das Jahr 1900 schrieb, und wußte ganz bestimmt, daß Königin Victoria noch gelebt hatte. Also einigte man sich auf den 20. Januar 1900.
    Meine Mutter kannte ich nicht, denn wie ich bereits erwähnt habe, starb sie bei meiner Geburt – bei der »Niederkunft«, wie sie es nannten, was ich jedoch erst viel später verstand. Unser Pfarrer, von einigen Leuten Hochwürden, von den meisten aber Vater O’Malley genannt, erzählte mir immer, daß sie eine wahre Heilige gewesen war. Mein Vater – den bestimmt niemand einen Heiligen genannt hätte – arbeitete tagsüber im Hafen, verbrachte seine Nächte im Pub und kam am frühen Morgen heim, weil er nur da ungestört seinen Rausch ausschlafen konnte.
    Der Rest meiner Familie bestand aus drei Schwestern – Sal, die älteste, war bei meiner Geburt fünf; sie wußte immerhin, wann sie geboren war, denn sie kam mitten in der Nacht zur Welt und hatte so unseren Vater um seinen kostbaren Schlaf gebracht; Grace war drei und verursachte nie jemandem eine unruhige Nacht; und die rothaarige Kitty war gerade achtzehn Monate alt und plärrte die ganze Zeit.
    Familienoberhaupt war Großvater Charlie, nach dem man mich benannt hatte. Er schlief in seinem eigenen Zimmer im Erdgeschoß unserer Wohnung in der Whitechapel Road, während die restliche Familie im gegenüberliegenden Zimmer zusammengepfercht war. Außerdem gab es noch eine Küche und einen winzigen Raum, den man mit bestem Willen höchstens als Besenkammer bezeichnen konnte; Grace jedoch hatte ihn feierlich zum Wohnzimmer ernannt.
    Im Garten gab es zwar kein Gras, dafür aber ein gewisses Häuschen, das wir gemeinsam mit einer irischen Familie benutzten, die über uns wohnte.
    Großpapa – der von Beruf Obst- und Gemüsehändler war – hatte sich einen guten Standplatz an der Ecke der Whitechapel Road gesichert. Als ich groß genug war, um aus meiner Apfelsinenkiste hinauszuklettern und zwischen den anderen Verkaufskarren herumzustromern, fand ich bald heraus, daß man meinen Großvater hier für den besten Händler vom ganzen East End hielt.
    Mein Vater, der – wie ich bereits erwähnte – Hafenarbeiter war, schien sich nie sonderlich für uns Kinder zu interessieren, und obwohl er manchmal bis zu einem Pfund die Woche verdiente, landete sein gesamter Lohn so gut wie immer im Black Bull , wo er sein Geld für ein Bier nach dem anderen ausgab und beim Karten- und Dominospiel verlor, gewöhnlich in Gesellschaft von Bert Shorrocks, der unser Nachbar war und offenbar nie redete, sondern bloß ab und zu vor sich hin brummte.
    Wenn Großvater nicht gewesen wäre, hätte sich auch niemand darum gekümmert, daß ich wenigstens die Grundschule besuchte. Und »besuchte« war das treffende Wort, denn ich tat dort nicht viel mehr, als den Deckel meines kleinen Pults zuzuknallen und hin und wieder an den Zöpfen von »Schickidickie« zu ziehen, die vor mir saß. Ihr richtiger Name war Rebecca Salmon, und sie war die Tochter von Dan Salmon, dem die Bäckerei an der Ecke Brick Lane gehörte. Schickidickie wußte ganz genau, wann und wo sie geboren war, und sie ließ keine Gelegenheit aus, uns ständig unter die Nase zu reiben, daß sie ein ganzes Jahr jünger war als sonstjemand in
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