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Der Kalte

Der Kalte

Titel: Der Kalte
Autoren: Robert Schindel
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    1.
    Der Sturm wurde heftiger. Das Laub sauste und kreiselte, die Wolken rollten mit Tempo in den Westen, da und dort fielen Ziegel auf die Gehsteige. Der Bettler Ecke Kärntner Straße und Himmelpfortgasse, der als Krüppel vor seinem Hut gesessen war, sprang auf und lief diesem hinterher, den der Sturm zum Stock-im-Eisen-Platz trieb. Auch Edmund Fraul, der eben über die Salztorbrücke ging, wurde der Hut vom Kopf gerissen. Schon schwamm der im Donaukanal und unter der Brücke weg. Fraul, vornübergebeugt, ging weiter, das schlohweiße volle Haar in alle Richtungen.
    Er überquerte den Kai. Die grünbärtige Ruprechtskirche sah älter aus, als sie war, bedrückt ließ sie auch diesen Sturm über sich ergehen, der Sand der Baustelle neben ihr wirbelte um sie herum, Fraul bog in die Rotenturmstraße ein. Auf dem Stephansplatz, ohnehin der windigste Platz der Stadt, wurde der Sturm geradezu unerträglich. Rechts in der Brandstätte ließ der Druck etwas nach. Fraul ging rasch und wusste mit einem Mal, dass ihm von den Häusern, an denen er entlangeilte, Unheil drohte. Konnte es sein, dass hinter den Fenstern Leute lauerten, die ihm vierzig Jahre später noch nach dem Leben trachteten? Er schaute rasch links und rechts zu den Scheiben hinauf. Als er in den Tuchlauben eintraf, zerriss der Sturm die Wolken über ihm, sodass die Novembersonne jäh den Straßenzug aufhellte; einen Moment ließ der Sturm ganz nach, dann trieb er Edmund Fraul ins Café Korb.
    Damals hob ich den Blick, legte die Zeitung weg, stand auf,
um Fraul zu begrüßen. Er gab mir die Hand; ein abschätziges Lächeln, das ich für ein freundliches nahm, und schon ging er seinen Mantel ausziehen und an den Haken hängen. Nachdem er eine Melange bestellt hatte, begannen wir miteinander zu reden. Nach zwei Stunden verabschiedeten wir uns, ich packte meine Notizen zusammen, er winkte mir nochmals zu. Kaum war er bei der Tür draußen, eilte ich ihm nach, denn ich wollte ihm noch in den Rücken schauen, seinen Gang beobachten. Doch neben mir stand bereits der Ober, ich zahlte und verlangte eine Rechnung.
    Auf dem Weg zum nächsten Interview sah ich den Alten nochmals. Er verließ ein Hutgeschäft und kam mir entgegen. Bevor er mich hätte bemerken können, blieb er vor einer spiegelnden Auslage stehen und betrachtete den Hut auf seinem Kopf. Ich ging hinter seinem Rücken vorbei, und wir entfernten uns voneinander. Die Kraft des Sturmes schien gebrochen, der Tag wurde noch sonnig und mild.
    Fraul schlenderte nach Hause. Inzwischen war es drei Uhr geworden. Gelegentlich blieb er vor den Auslagen stehen. Sein Atem ging ruhig.
    Ein höflicher junger Mann, dieser Apolloner, dachte er. Nett. Hat sich informiert, hat mein Auschwitzbuch gelesen, allerhand. Was wird er sein? Dreißig? Was war sein Vater? Hitlerjunge oder schon SA ?
    Der Bettler Ecke Rotenturmstraße und Fleischmarkt schaute stumpf vor sich hin, als Fraul vorbeiging. Was will der Fechter, dem gehts doch gut. Er unterbrach diesen Gedanken, schaute über die Schulter zu dem Bettler zurück. Ein Kleiderhaufen auf dem Erdboden, aus dem ein zerrupfter Kopf herausgewachsen war. Fraul blieb stehen. Im Umdrehen holte er sein Portemonnaie unterm Mantel aus der Ge
säßtasche, entnahm einen Zwanzigschillingschein, ging zurück, bückte sich und legte ihn dem Bettler in den Hut.
    »Donge«, flüsterte der, ohne die Kopfhaltung zu verändern. Edmund Fraul setzte seinen Weg fort. Daheim angekommen, nahm er am Küchentisch Platz.
    »Kaffee?«, fragte seine Frau.
    »Noch nicht, danke.« Er schaute zum Fenster hinaus und auf den wolkenlosen Himmel.
    »Wie war das Interview?«, fragte Rosa und machte sich an die Zubereitung ihres Kaffees.
    »Wie immer.«
    »Wann kommt es?«
    »Es wird schon kommen.«
    Sie schwiegen. Rosa trank Kaffee. Schließlich stand Fraul auf, ging ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Sie blieb in der Küche sitzen. Es dämmerte, sie machte Licht. Gedanken sind ihr viele durch den Kopf gegangen. Wie zumeist hielt sie sie nicht fest. Als sie seine Schreie vernahm, kam sie rasch ins Schlafzimmer und weckte ihn auf. Er lächelte leise, ging ins Bad und wusch sich sein Gesicht ab.
    »Vergiss nicht, Karel kommt heute«, sagte sie ins Bad hinein.
    »Hm.«
    Edmund blieb heute zu Hause. Sein Sohn würde kommen. Schauspieler hat er werden müssen. Verdient Geld, indem er so tut als ob.
    »Wer hat dir den neuen Hut geschenkt, Edmund?«
    »Keiner.«
    Heute, vierter November fünfundachtzig, hatte
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