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Archer Jeffrey

Archer Jeffrey

Titel: Archer Jeffrey
Autoren: Der Aufstieg
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Standplatz kam, strahlte ich schon übers ganze Gesicht.
Die Menschenansammlung um unseren Karren erschien mir größer als normalerweise an einem Samstagvormittag, und ich verstand nicht, warum es plötzlich so ruhig wurde, als ich auftauchte. »Da ist der junge Charlie!« rief jemand, und mehrere Köpfe drehten sich zu mir um und starrten mich an. Irgendwas stimmte nicht. Ich ließ die Griffe meines neuen Karrens los und rannte auf die Menge zu. Die Leute öffneten sofort eine Gasse für mich. Als ich hindurch war, sah ich Großpapa auf dem Pflaster liegen, den Kopf auf eine Kiste mit Äpfeln gestützt. Sein Gesicht war kreidebleich.
Ich fiel neben ihm auf die Knie. »Ich bin’s, Großpapa. Ich bin ‘ier«, schluchzte ich. »Was soll ich machen? Sag mir doch, was soll ich tun?«
Er öffnete blinzelnd die müden Lider, »‘ör mir gut zu, mein Junge«, flüsterte er, während er mühsam nach Atem rang. »Der Karren ge’ört jetzt dir. Also laß ihn und den Standplatz nie länger als ein paar Stunden aus den Augen.«
»Aber es ist dein Karren und dein Standplatz, Großpapa! Wie willst du arbeiten ohne einen Karren und einen Standplatz?« fragte ich. Aber er hörte es nicht mehr.
Bis zu diesem Augenblick hatte ich nie den Gedanken gehabt, daß jemand, den ich kannte, sterben könnte.
    2
    Der Trauergottesdienst für Großvater Charlie Trumper fand an einem wolkenlosen Augustmorgen in der Kirche St. Mary and St. Michael in der Jubilee Street statt. Nachdem der Chor sich auf seine Plätze begeben hatte, gab es nur noch Stehplätze. Selbst Mr. Salmon, der einen langen schwarzen Mantel und einen breitkrempigen schwarzen Hut trug, mußte hinten stehen.
    Als Charlie am nächsten Morgen seinen nagelneuen Karren auf den Standplatz seines Großvaters rollte, kam sogar Mr. Dunkley aus seiner Imbißstube, um die Neuanschaffung zu bewundern.
    »Es ‘at doppelt soviel drauf Platz wie auf Großpapas altem Karren«, erklärte ihm Charlie stolz. »Und ich ‘ab ihn bis auf ein knappes Pfund bezahlt.« Doch bis zum Ende der Woche mußte Charlie zu seinem Leidwesen erkennen, daß sein Karren noch halb voll mit nicht mehr frischen Sachen war, die keiner mehr wollte. Sogar Sal und Kitty rümpften die Nase, wenn er ihnen schwarze Bananen und fleckige Pfirsiche nach Hause brachte.
    Charlie brauchte mehrere Wochen, bis er ungefähr abschätzen konnte, welche Mengen er an jedem Tag brauchte, um seine Kunden zufriedenzustellen, und noch länger, bis er begriff, daß die Bedürfnisse seiner Kunden von Tag zu Tag unterschiedlich waren.
    An einem Samstag morgen, nachdem Charlie seine Ware auf dem Großmarkt erstanden hatte und auf dem Rückweg nach Whitechapel war, hörte er einen lauten Ruf.
    »Britische Truppen an der Somme hingemetzelt!« brüllte ein Zeitungsjunge, der an der Ecke vom Covent Garden stand.
Charlie gab ihm einen Halfpenny und erhielt dafür den Daily Chronicle. Er setzte sich damit auf das Pflaster und begann zu lesen, das heißt, er suchte die Worte heraus, die er verstand. Die Zeitung schrieb vom Tod Tausender britischer Soldaten bei einem gemeinsamen Einsatz mit den Franzosen gegen Kaiser Wilhelms Truppen. Die Monate dauernde Sommeschlacht hatte unter keinem guten Stern gestanden. General Haig hatte einen Vorstoß von vier Kilometern pro Tag prophezeit, aber es endete in einem Rückzug. Der Begeisterungsruf »Weihnachten sind wir zu Haus!« hatte sich als leere Prahlerei erwiesen.
Charlie warf die Zeitung in den Rinnstein. Es würde keinem Deutschen gelingen, seinen Vater zu töten, davon war er überzeugt, allerdings quälte ihn in letzter Zeit sein Gewissen, weil er selbst nichts zum Sieg beitrug. Seine Schwester Grace hatte sich freiwillig zum Einsatz gemeldet und arbeitete nun in einem Zeltlazarett, nicht einmal einen Kilometer hinter der Front.
Obwohl sie Charlie regelmäßig jeden Monat schrieb, hatte sie keine Neuigkeiten, die ihren Vater betrafen. »Hier gibt es eine halbe Million Soldaten«, schrieb sie zur Erklärung, »und durchfroren, naß und hungrig sehen sie alle gleich aus.« Sal arbeitete immer noch als Kellnerin in der Commercial Road und verbrachte offenbar ihre ganze Freizeit damit, einen Ehemann zu finden. Kitty hatte keinerlei Schwierigkeiten, Männer zu finden, die ihr nur zu gern alles gaben, was sie brauchte. Kitty war auch die einzige der drei Schwestern, die tagsüber Zeit hatte, am Karren auszuhelfen, aber sie stand nie vor der Sonne auf und hatte sich längst wieder verzogen, bevor die
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