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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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versicherte ernst, dass er nett und zum Knuddeln und überhaupt ganz drollig wäre.
    »Eigentlich habe ich mir ja ein Mädchen gewünscht. Ich hätte es Anne genannt«, sagt Diana. »Aber jetzt, wo der kleine Fred da ist, würde ich ihn nicht gegen eine Million Mädchen eintauschen. Er ist einfach er.«
    »Jedes Baby ist das süßeste und drolligste Baby der Welt«, sagte Mrs Allan fröhlich. »Hättest du eine kleine Anne bekommen, hättest du genauso empfunden.«
    Mrs Allan machte seit ihrem Wegzug gerade ihren allerersten Besuch in Avonlea. Sie war so fröhlich und reizend und verständnisvoll wie eh und je. Ihre alten Freundinnen hatten sie begeistert aufgenommen. Die derzeitige Pfarrersfrau war eine ganz schätzenswerte Dame, aber sie war nun mal keine verwandte Seele.
    »Ich kann es kaum abwarten, bis er anfängt zu sprechen«, seufzte Diana. »Ich freue mich schon so darauf, wenn er das erste Mal >Mama< sagt. Und natürlich soll seine erste Erinnerung an mich eine gute sein. Meine früheste Erinnerung an meine Mutter ist, wie sie mir wegen irgendetwas einen Klaps gegeben hat. Ich hatte es bestimmt verdient. Mutter war immer gut zu mir und ich habe sie sehr lieb. Aber ich wünschte doch, ich hätte eine schönere erste Erinnerung an sie.«
    »Von meiner Mutter habe ich nur eins in Erinnerung, es ist meine allerliebste«, sagte Mrs Allan. »Ich war fünf und ich durfte einmal mit meinen beiden älteren Schwestern zur Schule gehen. Nach der Schule gingen meine Schwestern in zwei verschiedenen Grüppchen nach Hause, wobei jede dachte, ich wäre bei der jeweils anderen. Ich war mit einem kleinen Mädchen weggerannt, mit dem ich in der Pause gespielt hatte. Wir sind zu ihr nach Hause gelaufen, sie wohnte ganz in der Nähe der Schule, und haben Matschkuchen gebacken. Wir haben uns blendend die Zeit vertrieben, bis schließlich wütend und außer Atem meine älteste Schwester auftauchte.
    >Du ungezogenes Mädchen<, rief sie, schnappte mich an der Hand, die ich wegzog, und schleifte mich mit. >Du gehst jetzt sofort nach Hause. Du wirst dir schön was einfangen! Mutter ist ganz wütend. Du kriegst eine gehörige Tracht Prügel!<
    Ich hatte noch nie Schläge bekommen. Angst und Schrecken packte mich. Mein Lebtag hatte ich mich nicht so elend gefühlt wie damals auf dem Nachhauseweg. Ich war ja nicht mit Absicht weggelaufen. Phemy Cameron hatte gefragt, ob ich mit zu ihr nach Hause komme, und ich wusste ja gar nicht, dass ich das nicht durfte. Und jetzt sollte ich Prügel dafür bekommen. Meine Schwester schleifte mich in die Küche, wo Mutter im Halbdunkel am Feuer saß. Meine Beine zitterten so, dass ich kaum stehen konnte. Und Mutter - Mutter hat mich ohne zu schimpfen in die Arme genommen, mir einen Kuss gegeben und mich fest an sich gedrückt. »Ich habe mir ja solche Sorgen gemacht, du hättest dich verlaufen, Schatz«, sagte sie zärtlich. Das ist meine einzige Erinnerung an sie. Aber ist sie nicht schön?«
    Anne fühlte sich einsamer denn je, als sie über den Birkenweg und durch Willowmere nach Hause ging. Seit Monaten war sie den Weg nicht mehr gegangen. Die Sonne ging rot unter und alles stand in Blüte. Die Luft war erfüllt vom Duft der Blumen - fast betäubend. Die Birken am Weg waren zu großen Bäumen herangewachsen. Alles hatte sich verändert. Anne spürte, dass sie froh wäre, wenn der Sommer endlich vorüber war und sie wieder ihrer Arbeit nachging. Vielleicht würde ihr das Leben dann nicht mehr so leer Vorkommen.

40 - Die Offenbarung
    Den Sommer über kehrten die Irvings nach Echo Lodge zurück und Anne verbrachte drei herrliche Wochen im Juni bei ihnen. Miss Lavendar hatte sich nicht verändert. Charlotta die Vierte war eine inzwischen erwachsene junge Dame, doch sie war noch immer voll Bewunderung für Anne.
    »Alles in allem, Miss Shirley, habe ich in Boston niemanden wie Sie kennen gelernt«, sagte sie offen.
    Paul war auch fast erwachsen. Er war jetzt sechzehn, seine kastanienbraunen Lockenhaare waren kurz geschnitten und er interessierte sich jetzt mehr für Football als für Mädchen. Aber das Band zwischen ihm und seiner ehemaligen Lehrerin bestand noch immer. Seelenverwandtschaft übersteht eben auch die Jahre.
    Es war ein regnerischer, trüber Abend im Juli, als Anne nach Green Gables zurückkehrte. Ein wütender Sommersturm, wie sie manchmal über den Golf fegen, wühlte das Meer auf. Als Anne ins Haus trat, trommelten die ersten Tropfen gegen die Scheiben.
    »Welcher Paul war das, der
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