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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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Traum«, sagte er bedachtsam. »Ich träume ihn immer wieder, obwohl es mir schon oft so vorgekommen ist, als könnte er nie in Erfüllung gehen. Ich träume von einem Haus mit einem Kamin und einer Katze und einem Hund und Freunden darin - und mit dir!«
    Anne wollte etwas sagen, aber sie fand keine Worte. Das Glück brach über ihr zusammen wie eine Welle. Es machte ihr fast Angst.
    »Ich habe dir vor über zwei Jahren eine Frage gestellt, Anne. Wenn ich sie dir heute wieder stelle, wird deine Antwort anders ausfallen?«
    Noch immer konnte Anne nichts sagen. Aber sie hob die Augen, die vor Liebe leuchteten, und sah ihm einen Augenblick lang in die Augen. Eine andere Antwort hätte er sich nicht gewünscht.
    Sie blieben bis Anbruch der Dämmerung in dem alten Garten - so schön musste eine Dämmerung im Paradies gewesen sein. Es gab so vieles, worüber sie reden und was sie sich ins Gedächtnis rufen mussten - Dinge, die gesagt und getan und gehört und gedacht und gefühlt und missverstanden worden waren.
    »Ich dachte, du liebst Christine Stuart«, sagte Anne vorwurfsvoll zu ihm, so als hätte sie ihrerseits nicht den geringsten Anlass zu der Annahme gegeben, dass sie Roy Gardner liebte. Gilbert lachte jungenhaft.
    »Christine ist mit jemand in ihrer Heimatstadt verlobt. Ich wusste das und sie wusste, dass ich es wusste. Als ihr Bruder seinen Abschluss machte, hat er mir erzählt, dass seine Schwester in Kingsport Musik studieren würde. Er hat mich gebeten, ob ich mich nicht ein wenig um sie kümmern könnte, weil sie niemanden kannte und sich vielleicht allein fühlen würde. Das habe ich gemacht. Außerdem konnte ich Christine gut leiden. Sie ist eins der nettesten Mädchen, die ich kenne. Ich weiß, dass alle am Redmond gemeint haben, wir wären ineinander verliebt. Mir war das egal. Nachdem du mir den Laufpass gegeben hattest, war mir so ziemlich alles egal. Es hat nie eine andere - es konnte nie eine andere für mich geben als dich. Ich habe dich geliebt seit dem Tag, an dem du in der Schule deine Schiefertafel auf meinem Kopf zertrümmert hast.«
    »Ich verstehe nicht, wieso du mich auch weiterhin geliebt hast, wo ich so dumm war«, sagte Anne.
    »Tja, ich habe versucht, es zu lassen«, sagte Gilbert offen. »Nicht weil ich dich für dumm gehalten hätte, sondern weil ich keine Chancen mehr sah, als Gardner auf der Bildfläche auftauchte. Aber es ging nicht - ich kann dir gar nicht sagen, was diese zwei Jahre für mich bedeutet haben, als ich dachte, du würdest ihn heiraten, und Woche für Woche von irgendeinem Wichtigtuer erzählt zu bekommen, dass ihr so gut wie verlobt wärt. Ich habe es geglaubt, bis ich eines glücklichen Tages nach meiner Krankheit wieder zu mir kam. Ich bekam einen Briefvon Phil Gorden - Phil Blake heißt sieja -, in dem sie schrieb, dass es mit Roy und dir aus wäre, und in dem sie mir zu einem »zweiten Anlauf« riet. Tja, der Arzt hat gestaunt, wie schnell ich mich wieder erholt habe.«
    Anne lachte - dann erschauerte sie.
    »Ich werde die Nacht nie vergessen, als ich dachte, du würdest im Sterben liegen, Gilbert. Oh, ich wusste - da wusste ich es einfach -, und ich dachte, es wäre zu spät.«
    »Aber das war es nicht, Liebling. O Anne, jetzt ist alles wieder gut, nicht wahr? Lass uns diesen Tag nie vergessen.«
    »Es ist unser Glückstag«, sagte Anne zärtlich. »Ich habe Hester Grays Garten gleich ins Herz geschlossen, aber jetzt ist er mir noch lieber als früher.«
    »Aber wir brauchen noch viel Geduld, Anne«, sagte Gilbert traurig. »Erst in drei Jahren bin ich mit dem Medizinstudium fertig. Und auch dann kann ich dir keine Diamanten und Marmorsäle bieten.«
    Anne lachte.
    »Ich will auch gar keine Diamanten und Marmorsäle. Ich will nur dich. Du siehst, ich bin in dem Punkt genauso wie Phil. Diamanten und Marmorsäle sind ja schön und gut, aber ohne sie bleibt mehr >Raum für Phantasie<. Und was das Warten angeht, das macht nichts. Wir werden glücklich sein - wir üben uns in Geduld und arbeiten - und träumen. Und das werden jetzt wieder schöne Träume sein.«
    Gilbert zog sie fest an sich und küsste sie. Dann gingen sie in der Dunkelheit nach Hause, durch verzauberte Wiesen, über die der Wind der Hoffnung und der Erinnerung wehte.
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