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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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überwältigende Prachthochzeit vorgeführt bekomme.«
    »Stimmt es denn, dass sie so mit Diamanten behängt war, dass man nicht mehr sagen konnte, wo die Diamanten aufhörten und Jane anfing?«
    Anne lachte.
    »Ja, sie hatte wirklich einen Haufen Schmuck. Vor lauter Diamanten und weißem Satin und Tüll und Spitze und Rosen und Orangenblüten war Jane kaum noch zu sehen. Aber sie war glücklich, Mr Inglish auch - und nicht zu vergessen Mrs Harmon.«
    »Ziehst du heute Abend das Kleid an?«, fragte Gilbert und betrachtete die Rüschen und Krausen.
    »Ja. Ist es nicht hübsch? Und ins Haar stecke ich mir Siebenstern. Dies Jahr gibt es nämlich ganz viele unten im Zauberwald.«
    Gilbert sah Anne plötzlich vor sich in einem grünen Rüschenkleid, aus dem ihre Arme und der Hals herausschauten, und weißen Blumen in ihrem rötlichen Haar. Er musste den Atem anhalten bei der Vorstellung. Doch er wandte sich schnell ab. »Also, bis morgen. Ich wünsche dir einen schönen Abend.« Anne sah ihm nach, als er davonging, und seufzte. Gilbert gab sich freundschaftlich - sehr freundschaftlich - viel zu freundschaftlich. Seit er wieder auf dem Damm war, war er oft nach Green Gables gekommen, und etwas von der alten Kameradschaft war wieder zu spüren. Aber Anne stellte das nicht mehr zufrieden. Im Vergleich zur Rose der Liebe war die Blume der Freundschaft blass und ohne jeden Duft. Anne hatten Zweifel befallen, ob Gilbert für sie noch mehr als freundschaftliche Zuneigung empfand. Eine elende Angst überkam sie, dass ihr Fehler vielleicht nie wieder ausgebügelt werden konnte. Es war wohl ziemlich wahrscheinlich, dass Gilbert noch Christine liebte. Vielleicht war er sogar schon mit ihr verlobt. Anne versuchte alle vagen Hoffnungen beiseite zu schieben und sich mit einer Zukunft abzufinden, in der Arbeit an die Stelle der Liebe treten musste. Als Lehrerin konnte sie gute, wenn nicht gar edle Dienste leisten. Und der Erfolg, den sie in bestimmten Zeitschriften mit ihren kleinen Geschichten hatte, ließ Gutes hoffen für ihre literarischen Träume. Aber . . . aber . . . Anne nahm ihr grünes Kleid auf und seufzte erneut.
    Als Gilbert am nächsten Tag erschien, wartete Anne schon auf ihn, frisch wie der Morgen und strahlend schön, trotz des ausgelassenen Festes am Vorabend. Sie trug ein grünes Kleid - nicht das, das sie zur Hochzeit angehabt hatte, sondern ein älteres, zu dem Gilbert ihr auf einem Fest am Redmond gesagt hatte, dass es ihm ganz besonders gut gefalle. Es hatte genau den Grünton, der ihre kräftige Haarfarbe besonders gut zur Geltung brachte, ihre graugrünen Augen und ihre zarte Haut. Gilbert, der sie aus dem Augenwinkel ansah, als sie einen schattigen Waldweg entlanggingen, fand sie schön wie nie zuvor.
    Anne, die ihrerseits ab und zu Gilbert aus dem Augenwinkel ansah, fand, dass er nach seiner Krankheit viel älter wirkte. Es war ein schöner Tag und ein schöner Spaziergang. Anne bedauerte es fast, dass sie schon bei Hester Grays Garten angelangt waren, und setzte sich auf die alte Bank. Doch auch dort war es schön - so schön wie an dem längst vergangenen Tag, als Diana, Jane, Priscilla und sie das Plätzchen entdeckt und dort gepicknickt hatten. Damals hatte es dort Narzissen und Veilchen gegeben. Jetzt leuchtete in den Ecken Goldrute und dazwischen als blaue Punkte Astern. Das liebliche Plätschern des Baches drang durch das Birkental und den Wald bis zu ihnen. Die laue Luft war erfüllt vom Rauschen des Meeres. Dahinter erstreckten sich Felder, deren Zäune in der Sonne zu einem Silbergrau verblichen waren, und die lang gestreckten Hügel waren in Schatten gehüllt, die die Herbstwolken warfen. Mit dem Westwind kehrten alle Träume wieder.
    »Ich glaube«, sagte Anne leise, »dass >das Land, in dem Träume wahr werden<, dort in dem blauen Dunst hinter dem kleinen Tal liegt.«
    »Hast du denn unerfüllte Träume, Anne?«, fragte Gilbert. Etwas in seinem Tonfall - etwas, was sie nicht wahrgenommen hatte seit jenem schrecklichen Abend im Garten von Pattys Haus - ließ Annes Herz wie wild pochen. Aber sie antwortete gelassen.
    »Sicher. Die hat jeder. Es wäre nicht gut, wenn wir wunschlos glücklich wären. Wir wären so gut wie tot, hätten wir keine Träume mehr. Wie die Sonne die Astern und den Farn so herrlich duften lässt. Ich wünschte, man könnte Gerüche nicht nur riechen, sondern auch sehen. Sie würden bestimmt schön aussehen.«
    Gilbert ließ sich davon nicht ablenken.
    »Ich habe auch einen
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