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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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01 - Veränderungen werfen ihre Schatten voraus
    »Die Ernte ist eingebracht und der Sommer ist vorbei«, sagte Anne Shirley und schaute verträumt über die gemähten Felder. Diana Barry und sie hatten im Obstgarten von Green Gables Äpfel gepflückt, ruhten sich aber jetzt von ihrer Arbeit an einem sonnigen Fleckchen aus. Zarte Flöckchen von Distelwolke schwebten durch die Luft, die noch immer sommerlich süß nach dem Duft des Farns im Geisterwald roch.
    Aber die Landschaft um sie herum mutete schon sehr herbstlich an. In der Ferne toste dumpf das Meer, die Stoppelfelder, gesäumt von Goldrute, lagen öde und kahl da. Das Tal mit dem Bach unterhalb von Green Gables war übersät mit blassroten Astern, und der See der Glitzernden Wasser hatte ein klares, tiefes, ungetrübtes Blau.
    »Es war ein schöner Sommer«, sagte Diana und drehte mit einem Lächeln den neuen Ring an ihrer linken Hand. »Und Miss Lavendars Hochzeit war die Krönung des Ganzen. Die Irvings dürften jetzt am Pazifik sein.«
    »Mir kommt es vor, als wären sie schon lange genug fort, um einmal um die ganze Welt zu reisen«, seufzte Anne. »Ich kann gar nicht glauben, dass es erst eine Woche her ist, dass sie geheiratet haben. Alles hat sich verändert. Miss Lavendar und Mr und Mrs Allan sind fort - wie einsam und verlassen das Pfarrhaus mit den geschlossenen Fensterläden aussieht! Ich bin gestern Abend daran vorbeigegangen, es lag da wie ausgestorben.«
    »Wir werden nie wieder einen so netten Pfarrer wie Mr Allan bekommen«, sagte Diana finster überzeugt. »Diesen Winter kommen alle möglichen Vertreter und die Hälfte aller Sonntage findet bestimmt gar keine Kirche statt. Und Gilbert und du seid fort - es wird furchtbar langweilig werden.«
    »Aber Fred wird hier sein«, merkte Anne listig an.
    »Wann zieht Mrs Lynde zu euch?«, fragte Diana, so als hätte sie Annes Bemerkung nicht gehört.
    »Morgen. Ich freue mich auf sie - aber das bedeutet noch eine Veränderung mehr. Marilla und ich haben gestern alles aus dem Gästezimmer hinausgeschafft. Es ist natürlich albern - aber uns kam es vor wie eine Entweihung. Für mich war das Gästezimmer eine Art Heiligtum. Als Kind war es für mich das wundervollste Zimmer der Welt. Du weißt doch, wie sehr ich mir immer gewünscht habe, in einem Gästezimmerbett zu schlafen - aber nicht in dem von Green Gables. O nein, darin nicht! Das wäre zu schrecklich gewesen - vor Ehrfurcht hätte ich kein Auge zugetan. Nie bin ich einfach durch das Zimmer gegangen, wenn Marilla mich hinschickte, um etwas zu holen - nein, auf Zehenspitzen bin ich geschlichen und mit angehaltenem Atem, als wäre ich in einer Kirche. Ich war erleichtert, wenn ich wieder draußen war. Es hat mich immer gewundert, dass Marilla sich überhaupt getraut hat, das Zimmer sauber zu machen. Und jetzt ist es nicht nur sauber gemacht, sondern kahl und leer«, schloss Anne mit einem Lachen, in dem ein Hauch von Bedauern mitschwang.
    »Ich werde mir einsam und verlassen Vorkommen, wenn du nicht mehr da bist«, jammerte Diana zum hundertsten Male. »Und das schon nächste Woche!«
    »Aber noch sind wir zusammen«, sagte Anne munter. »Wir dürfen uns deswegen nicht diese letzte Woche verderben lassen. Der Gedanke fortzugehen ist mir ja selbst zuwider, wo ich mich hier so wohl fühle. Da redest du von einsam und verlassen! Wenn jemand Grund zum Jammern hätte, dann ich. Du und ein paar deiner alten Freunde, ihr bleibt schließlich hier - und Fred! Ich dagegen werde allein unter Fremden sein und kenne keine Menschenseele!«
    »Außer Gilbert - und Charlie Sloane«, sagte Diana, wobei sie Annes Betonung und Listigkeit nachahmte.
    »Charlie Sloane ist natürlich ein großer Trost«, stimmte Anne bissig zu, woraufhin die beiden unwillkürlich lachen mussten. Diana wusste genau, was Anne von Charlie Sloane hielt. Aber trotz etlicher vertrauter Gespräche war ihr nicht ganz klar, was Anne von Gilbert Blythe hielt. Genau genommen wusste Anne es selbst nicht.
    »Soviel ich weiß, wohnen die Jungen der Schule am anderen Ende von Kingsport«, fuhr Anne fort. »Ich freue mich aufs Redmond, nach einer Weile wird es mir bestimmt gefallen. Anfangs wird es mir nicht gefallen, da bin ich mir ganz sicher. Nicht einmal auf Wochenendbesuche zu Hause kann ich mich freuen, wie früher am Queen’s. Weihnachten wird mir wie tausend Jahre weit weg Vorkommen.«
    »Alles verändert sich - oder wird bald anders«, sagte Diana traurig. »Nichts wird mehr sein, wie es
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