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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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dich da nach Hause gebracht hat?«, fragte Marilla. »Warum lässt du ihn nicht hier übernachten? Das Unwetter wird noch schlimmer werden.«
    »Er ist wieder auf Echo Lodge, bevor es anfängt, in Strömen zu gießen. Wie auch immer, er wollte gleich zurück. Also, es war eine herrliche Zeit, aber ich freue mich, wieder bei euch zu sein. >Osten, Westen, zu Hause ist’s am besten.< Bist du in der kurzen Zeit schon wieder gewachsen?«
    »Ganze zweieinhalb Zentimeter«, sagte Davy stolz. »Ich bin jetzt genauso groß wie Milty Boulter. Bin ich froh. Jetzt braucht er nicht mehr dauernd damit anzugeben, dass er größer wär. Sag mal, Anne, wusstest du schon, dass Gilbert Blythe stirbt?«
    Anne stand regungslos da und sah Davy an. Sie war so kreidebleich geworden, dass Marilla schon dachte, dass sie gleich in Ohnmacht fallen würde.
    »Davy, halt den Mund«, sagte Mrs Rachel wütend. »Anne, sieh nicht so drein - sieh doch nicht so drein! Wir wollten es dir eigentlich noch gar nicht sagen.«
    »Ist... es ... wahr?«, fragte Anne mit ganz fremd klingender Stimme.
    »Gilbert ist schwer krank«, sagte Mrs Lynde ernst. »Er hat Typhus bekommen, nachdem du nach Echo Lodge aufgebrochen warst. Hat es dir denn niemand gesagt?«
    »Nein«, sagte die fremde Stimme.
    »Es hat ihn schlimm erwischt. Der Arzt hat gemeint, er wäre völlig am Ende. Eine Krankenschwester pflegt ihn und es wird alles Menschenmögliche getan. Nun sieh doch nicht so drein, Anne. Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung.«
    »Mr Harrison war heute hier und hat gesagt, es wär hoffnungslos«, wiederholte Davy.
    Marilla, die alt, verbraucht und müde aussah, stand auf und scheuchte Davy finster aus der Küche.
    »Oh, nun schau doch nicht so, Liebes«, sagte Mrs Rachel und legte der kreidebleichen Anne freundlich den Arm um die Schultern. »Ich habe noch Hoffnung, jawohl. Zum Glück hat er ja die blythesche Widerstandskraft.«
    Anne schob sanft Mrs Lyndes Arm weg und ging blind durch die Küche, durch den Flur und die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Sie kniete sich ans Fenster und starrte, ohne etwas wahrzunehmen, hinaus. Es war stockfinster. Der Regen peitschte über die Felder. Der Geisterwald war erfüllt vom Ächzen der mächtigen Bäume, die sich im Sturm bogen, und durch die Luft drang das gewaltige Platschen der Wellen am fernen Ufer. Gilbert lag im Sterben!
    Jeder erlebt im Leben eine Art Offenbarung. Anne erlebte ihre an diesem Abend. All die stürmischen und finsteren Stunden hielt sie wie erstarrt Wache. Sie liebte Gilbert - hatte ihn immer geliebt! Sie wusste es jetzt genau. Sie wusste, dass sie ihn nicht, ohne größte Qualen zu leiden, aus ihrem Leben verbannen konnte, so wenig wie man sich, ohne Qualen zu leiden, die rechte Hand abhacken konnte. Aber es war ihr zu spät klar geworden, es war sogar zu spät für den bitteren Trost, wenigstens in den letzten Stunden bei ihm zu sein. Wäre sie nicht so blind gewesen, so dumm - dann hätte sie jetzt wenigstens das Recht, zu ihm zu gehen. Aber er würde vielleicht nie erfahren, dass sie ihn liebte - er würde mit dem Gedanken aus dem Leben scheiden, dass er ihr nichts bedeutete. All die finsteren Jahre der Leere, die vor ihr lagen! Sie würde nicht weiterleben können - sie konnte nicht! Sie kauerte sich am Fenster hin und wünschte, zum ersten Mal in ihrem unbeschwerten Leben, dass sie auch sterben möge. Wenn Gilbert ohne ein Wort, ein Zeichen oder eine Nachricht von ihr ging, dann konnte sie nicht weiterleben. Nichts hatte ohne ihn mehr Sinn. Sie gehörte zu ihm und er zu ihr. In dieser Stunde der allergrößten Qual zweifelte sie nicht einen Augenblick daran. Er liebte Christine Stuart nicht - hatte Christine Stuart nie geliebt. Oh, was war sie für eine Närrin gewesen, dass ihr nicht bewusst geworden war, was sie an Gilbert hielt - denn der Gedanke, dass sie die schmeichelnde Zuneigung, die sie für Roy Gardner empfunden hatte, für Liebe gehalten hatte! Und nun wurde sie für ihre Dummheit bestraft wie für ein Verbrechen.
    Mrs Lynde und Marilla schlichen an ihre Tür, bevor sie ins Bett gingen, schüttelten zweifelnd die Köpfe über die Stille, die im Zimmer herrschte, und stahlen sich wieder davon. Der Sturm wütete die ganze Nacht hindurch, doch bei Anbruch der Morgendämmerung ließ er nach. Anne erblickte an den Rändern der dunklen Wolken ein zauberhaftes Licht Bald waren die Hügelspitzen im Osten in feurigfunkelndes Rubinrot getaucht. Die Wolken zogen ab und bildeten riesengroße,
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