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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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egal ob arm oder reich. Und Mrs Harmon Andrews gab einfach unerträglich damit an. »Was ist eigentlich mit Gilbert Blythe auf dem College passiert?«, fragte Marilla. »Ich habe ihn letzte Woche gesehen, als er gerade nach Hause kam, und er sieht so blass und mager aus, dass ich ihn fast nicht erkannt hätte.«
    »Er hat letzten Winter viel gearbeitet«, sagte Anne. »Wie du weißt, hat er in Latein und Griechisch und noch anderen Fächern mit Auszeichnung abgeschlossen. Seit fünf Jahren hatte niemand mehr diese Auszeichnung bekommen. Also wird er wohl ziemlich erledigt sein! Wir sind alle etwas geschafft.«
    »Du jedenfalls hast deinen Abschluss, Jane Andrews dagegen nicht, und sie wird nie aufs College gehen«, sagte Mrs Lynde mit düsterer Befriedigung.
    Einige Tage später wollte Anne Jane besuchen, doch sie war nach Charlottetown gefahren - »Sie ist bei der Schneiderin«, teilte Mrs Harmon Anne stolz mit. »Wie die Dinge nun mal stehen, wäre eine Schneiderin aus Avonlea nicht gut genug für Jane.«
    »Man hört ja nur Gutes von Jane«, sagt Anne.
    »Ja, Jane hat eine gute Partie gemacht, auch wenn sie nicht auf dem College war«, sagte Mrs Harmon und warf leicht den Kopf in den Nacken. »Mr Inglish ist millionenschwer und ihre Hochzeitsreise machen sie nach Europa. Anschließend ziehen sie in Winnipeg in ein komplett eingerichtetes Wohnhaus voller Marmor. Aber was ist mit dir, Anne? Man hörte ja nichts von wegen Heirat, und da warst du nun so lange auf dem College.«
    »Oh«, lachte Anne, »ich finde einfach nicht den Passenden.« Das war ziemlich durchtrieben von ihr. Sie wollte Mrs Andrews entschieden klarmachen, dass es nicht daran lag, dass sie etwa keine Chancen gehabt hätte. Aber Mrs Harmon rächte sich auf dem Fuße.
    »Nun, die ganz besonders Wählerischen bleiben meist sitzen, fällt mir auf. Und was hört man da von Gilbert Blythe, von wegen verlobt mit Christine Stuart? Charlie Sloane hat mir erzählt, sie wäre sagenhaft hübsch. Ist das wahr?«
    »Keine Ahnung«, erwiderte Anne mit stoischer Ruhe, »aber es ist gewiss richtig, dass sie sagenhaft hübsch ist.«
    »Ich hatte immer gedacht, mit Gilbert und dir könnte es was werden«, sagte Mrs Harmon. »Wenn du nicht Acht gibst, Anne, dann gehen dir noch alle durch die Lappen.«
    Anne beschloss, ihr Rededuell mit Mrs Harmon nicht weiter fortzuführen. Man konnte unmöglich mit einem Gegner streiten, der mit einem Kriegsbeil rasiermesserscharf traf.
    »Da Jane nicht da ist«, sagte sie und erhob sich stolz, »brauche ich wohl nicht länger zu warten. Ich komme ein andermal wieder vorbei.«
    »Tu das«, sagte Mrs Harmon überschwänglich. »Jane bildet sich überhaupt nichts darauf ein. Sie will genau wie bisher mit ihren alten Freunden verkehren. Sie wird sich wirklich freuen, dich zu sehen.«
    Janes Millionär traf Ende Mai ein und entschwand mit ihr in wahrem Prunk. Mrs Lynde aber war boshaft befriedigt, als sie feststellte, dass Mr Inglish an die vierzig und klein und dürr und grauhaarig war. Mrs Lynde ließ diese Mängel in ihren Erzählungen nie aus, so viel steht fest.
    »Er braucht all sein Gold, um die bittere Pille zu versüßen«, sagte Mrs Rachel feierlich.
    »Er sieht doch freundlich und gutmütig aus«, sagte Anne in treuer Freundschaft, »und er hält große Stücke auf Jane.«
    »Hmph!«, machte Mrs Rachel.
    In der Woche darauf heiratete Phil. Anne fuhr nach Bolingbroke und war ihre Brautjungfer. Phil gab eine zauberhafte Braut ab und Pfarrer Jo strahlte so vor Glück, dass niemand ihn hässlich fand.
    »Erst fahren wir in die Flitterwochen«, sagte Phil, »und dann ziehen wir in die Patterson Street. Mutter findet es grauenhaft - sie meint, Jo könnte wenigstens an einer Kirche in einem noblerem Viertel tätig sein. Aber das triste Viertel um die Patterson Street herum wird mir mit Jo zusammen wie eine blühende Rose Vorkommen. O Anne, ich bin so glücklich, dass es mir fast das Herz zerreißt.«
    Anne freute sich stets am Glück ihrer Freunde. Aber manchmal kann es einen einsam machen, rundum von Glück umgeben zu sein, ohne selbst glücklich zu sein. Und so war es auch wieder, als sie nach Avonlea zurückkehrte. Diesmal war es Diana, die glückstrahlend ihr erstes Kind in den Armen hielt.
    »Ist er nicht süß?«, sagte Diana stolz.
    Der pummelige kleine Kerl hatte absurd große Ähnlichkeit mit Fred - war genauso rundlich und rotgesichtig. Anne konnte wirklich nicht guten Gewissens sagen, dass sie ihn süß fand, aber sie
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