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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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einmal war, Anne.«
    »Wir sind wohl an dem Punkt angelangt, wo sich unsere Wege trennen«, sagte Anne nachdenklich. »Es musste so kommen. Meinst du, Erwachsenwerden ist wirklich so schön, wie wir es uns als Kinder immer vorgestellt haben?«
    »Ich weiß nicht - es hat schon ein paar schöne Seiten«, antwortete Diana und betrachtete erneut mit diesem kleinen Lächeln liebevoll ihren Ring, was in Anne jedes Mal urplötzlich das Gefühl auslöste, als wäre sie ausgeschlossen. »Aber es hat auch viel Verwirrendes. Manchmal macht es mir Angst - dann würde ich alles dafür geben, wieder ein kleines Mädchen zu sein.«
    »Wir werden uns mit der Zeit schon daran gewöhnen«, sagte Anne heiter. »Es wird dann nicht mehr so viele unerwartete Seiten haben - obwohl gerade die unerwarteten Dinge dem Leben Würze geben. Aber du hältst doch immer ein Plätzchen für mich frei, nicht wahr, Di? Ich werde mich auch mit einem kleinen Zimmerchen über der Veranda oder neben der Stube bescheiden.«
    »Was redest du da für einen Unsinn, Anne«, lachte Diana. »Du wirst einen wunderbaren und hübschen und reichen Mann heiraten - kein Gästezimmer in Avonlea wird auch nur annähernd prachtvoll genug für dich sein - und du wirst die Nase rümpfen über sämtliche Freunde aus deiner Jugendzeit.«
    »Das wäre zu schade. Meine Nase zumindest ist ganz hübsch, und Naserümpfen würde sie ruinieren«, sagte Anne und klopfte an ihre ebenmäßige Nase.
    Wieder fröhlich lachend trennten sich die Mädchen, Diana, um nach Orchard Slope zurückzukehren, Anne, um zum Postamt zu gehen und einen Brief abzuholen. Als Gilbert Blythe sie auf dem Rückweg auf der Brücke über den See der Glitzernden Wasser einholte, sprühte sie vor Aufregung. »Priscilla Grant geht auch aufs Redmond«, rief sie. »Ist das nicht großartig? Ich hatte es gehofft, aber sie meinte, ihr Vater würde dagegen sein. Aber er ist einverstanden und wir werden zusammen wohnen. Mit Priscilla zur Seite könnte ich einem ganzen Heer die Stirn bieten - also auch spielend leicht allen Professoren am Redmond.«
    »Ich glaube, Kingsport wird uns gefallen«, sagte Gilbert. »Es soll eine hübsche alte Stadt sein, mit dem schönsten Park der Welt.«
    »Fragt sich nur, ob es schöner ist - überhaupt schöner sein kann - als hier«, murmelte Anne und schaute sich um mit dem verzückten Blick jener, denen »zu Hause« sowieso das hübscheste Fleckchen der Welt ist, und wenn es woanders noch so schön ist.
    Sie lehnten an der Brücke des Teichs und waren gefangen vom Zauber der Dämmerung. Das zarte Purpurrot des Sonnenuntergangs färbte noch den Himmel im Westen, aber der Mond war schon aufgegangen und warf einen silbernen Schein auf das Wasser.
    »Du bist so still, Anne«, sagte Gilbert schließlich.
    »Ich mag nichts sagen oder mich bewegen aus Angst, die wundervolle Schönheit könnte verschwinden«, flüsterte Anne.
    Plötzlich legte Gilbert seine Hand auf ihre schmale weiße Hand. Seine haselnussbraunen Augen wirkten noch dunkler, seine noch jungenhaften Lippen öffneten sich, um von dem Traum und der Hoffnung zu erzählen, die ihn bewegten. Aber Anne zog ihre Hand weg und drehte sich schnell um. Der Zauber war dahin.
    »Ich muss nach Hause«, rief sie betont unbekümmert. »Marilla hatte schon den ganzen Nachmittag Kopfweh und bestimmt haben die Zwillinge wieder was angestellt. Ich hätte wirklich nicht so lange wegbleiben sollen.«
    Sie schwatzte unaufhörlich und unzusammenhängend weiter, bis sie auf den Weg nach Green Gables kamen. Dem armen Gilbert ließ sie kaum Gelegenheit, ein Wort einzuwerfen. Anne war ziemlich erleichtert, als sie sich trennten. Da war ein neues merkwürdiges Gefühl der Befangenheit Gilbert gegenüber. Etwas Fremdes hatte sich in die alte reine Schulfreundschaft eingeschlichen - etwas, das sie zu ruinieren drohte.
    »Früher war ich jedes Mal ganz unglücklich, wenn Gilbert fortging«, dachte sie halb ärgerlich, halb bekümmert, als sie allein den Weg hinaufging. »Unsere Freundschaft zerbricht, wenn er nicht aufhört mit diesem Unsinn. Sie darf nicht zerbrechen - ich will das nicht. Warum können Jungen nur nicht vernünftig sein!« Anne hatte das ungute Gefühl, dass es auch nicht unbedingt »vernünftig« war, dass sie auf ihrer Hand noch immer Gilberts warmen Händedruck fühlte, so deutlich wie in dem flüchtigen Augenblick, als seine Hand auf der ihren gelegen hatte. Und noch weniger vernünftig war, dass das Gefühl alles andere als unangenehm
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