Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
Vom Netzwerk:
irgendwas von sich zu geben, dass dem Leben jede Farbe nimmt und es so grau, düster und farblos erscheinen lässt wie einen Novembermorgen.«
    »Gemeine Weibsbilder!«, war Gilberts Kommentar.
    »Nein, das sind sie nicht«, sagte Anne ernst. »Das ist es ja gerade. Wären sie nur gemein, dann hätte es mich nicht erschüttert. Aber alle waren lieb und nett und mütterlich besorgt um mich. Sie mögen mich, und ich mag sie, und eben darum hat mich das, was sie sagten, oder andeuteten, so beeindruckt. Durch die Blume haben sie mir klargemacht, dass sie es für verrückt halten, dass ich ans Redmond gehe, und jetzt frage ich mich langsam selber, ob es wirklich Sinn hat.«
    Anne schloss mit einem Lachen, vermischt mit einem Seufzer. Empfindsam, wie sie nun einmal war, hatte jede Missbilligung Gewicht, sogar von Leuten, auf deren Ansicht sie nicht viel gab.
    »Du machst dir doch wohl nichts aus dem Geschwätz«, wandte Gilbert ein. »Du weißt genau, was für einen beschränkten Horizont sie haben, auch wenn sie ansonsten herzensgute Menschen sind. Etwas zu tun, was es noch nie gegeben hat, ist verfluchtes Teufelszeug. Du bist die Erste aus Avonlea, die aufs College geht. Du weißt doch genau, dass man Pioniere zu allen Zeiten für mondsüchtige Irre gehalten hat.«
    »Ich weiß. Aber Wissen und Gefühl sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Mein Verstand sagt mir das auch, manchmal nimmt eben das Gefühl überhand. Ehrlich gesagt, als Mrs Elisha Wright ging, hatte ich kaum noch Mut, zu Ende zu packen.«
    »Du bist einfach erschöpft, Anne. Komm, vergiss das alles und lass uns einen Spaziergang machen - durch den Wald hinter den Sümpfen. Da müsste etwas sein, das ich dir zeigen will.«
    »Müsste sein! Bist du nicht sicher, dass es da ist?«
    »Nein. Ich weiß nur, dass es eigentlich da sein müsste, weil ich im Frühjahr einmal dort war. Komm. Wir lassen uns einfach vom Wind treiben, wie früher.«
    Fröhlich machten sie sich auf den Weg. Anne, die sich die Unstimmigkeit des vorausgegangenen Abends ins Gedächtnis rief, war sehr nett zu Gilbert. Und Gilbert war einsichtig genug, dass er sich wieder ganz als kameradschaftlicher Schuljunge aufführte. Mrs Lynde und Marilla betrachteten sie vom Küchenfenster aus.
    »Aus den beiden wird noch ein Paar«, sagte Mrs Lynde zustimmend.
    Marilla zuckte leicht zusammen. Insgeheim hoffte sie es auch, aber es passte ihr nicht, dass dies Thema von Mrs Lynde in ihrer geschwätzigen, nüchternen Art abgehandelt wurde. »Noch sind sie Kinder«, sagte sie kurz.
    Mrs Lynde lachte freundlich.
    »Anne ist achtzehn. Ich war in dem Alter schon verheiratet. Wir alten Leute machen uns nur zu gern vor, aus Kindern würden keine Erwachsene. Anne ist eine junge Frau, Gilbert ist ein erwachsener Mann. Und wie jeder sehen kann, mag er sie. Er ist ein feiner Kerl, Anne könnte es besser nicht treffen. Hoffentlich kriegt sie am College nicht irgendwelche romantischen Flausen in den Kopf. Ich habe noch nie was von diesen Schulen gehalten, in denen Mädchen und Jungen gemeinsam erzogen werden. Ich glaube nicht«, schloss Mrs Lynde ernst, »dass die Studenten an solchen Colleges sehr viel anderes tun als flirten.«
    »Sie müssen auch ab und zu lernen«, sagte Marilla mit einem Lächeln.
    »Ein ganz klein bisschen«, sagte Mrs Rachel naserümpfend.
    »Anne jedenfalls wird es tun. Sie war nie groß auf Flirts aus. Aber sie weiß gar nicht, was sie an Gilbert hat. Charlie Sloane ist auch in sie verliebt, aber ich würde ihr nie zuraten, einen Sloane zu heiraten. Die Sloanes sind gewiss gute, ehrliche, ehrenwerte Leute. Aber sie sind und bleiben nun mal Sloanes.«
    Gilbert und Anne, die zum Glück nicht ahnten, dass Mrs Rachel soeben ihre Zukunft beschlossen hatte, schlenderten durch den schattigen Geisterwald. Dahinter lagen die abgeernteten Hänge im bernsteinfarbenen Glanz der untergehenden Sonne. Die Fichten in der Ferne glänzten bronzefarben, und ihre langen Schatten versperrten die Sicht auf die höher gelegenen Wiesen.
    »Jetzt hat der Wald wirklich etwas Geisterhaftes - wie früher«, sagte Anne und bückte sich, um ein paar Farnzweige zu pflücken, die der Frost wachsweiß hatte werden lassen. »So als würden die kleinen Mädchen, Diana und ich, noch immer hier spielen und im Dämmerlicht am Nymphenteich sitzen und sich mit den Geistern treffen. Weißt du, dass ich niemals in der Dämmerung diesen Weg entlanggehe, ohne die alte Angst und den Schauder zu spüren?«, sagte Anne und lachte bei der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher