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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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Erinnerung daran. Der Wald am oberen Ende des Sumpfes schimmerte an vielen Stellen rot durch; er war durchzogen mit Spinnenfäden. Hinter einer streng in Reih und Glied stehenden Anpflanzung knorriger Tannen und einem von Ahorn gesäumten sonnigen Tal entdeckten sie das »Etwas«, wonach Gilbert gesucht hatte.
    »Ah, da ist es«, sagte er mit Befriedigung.
    »Ein Apfelbaum - und das an dieser abgelegenen Stelle!«, rief Anne entzückt.
    »Ja, ein richtiger Apfelbaum, und das hier mitten zwischen Kiefern und Buchen, meilenweit entfernt vom nächsten Obstgarten. Im Frühjahr war er eine einzige weiße Blütenpracht.
    Also wollte ich im Herbst noch mal nachsehen. Sieh doch bloß, er ist ganz beladen mit Äpfeln. Sie sehen lecker aus.« Die Äpfel schmeckten köstlich. Unter der rauen Schale war ganz weißes, schwach rot geädertes Fleisch. Neben dem Apfelgeschmack hatten sie einen wilden, aber leckeren Beigeschmack, wie ihn kein in einem Obstgarten gewachsener Apfel hat.
    »Der schicksalhafte Apfel aus dem Garten Eden hätte nicht köstlicher schmecken können«, bemerkte Anne. »Aber es ist Zeit, dass wir nach Hause gehen.«
    »Gehen wir um den Sumpf herum und durch die Liebeslaube. Hast du eigentlich immer noch schlechte Laune, Anne?«
    »Nein. Diese Äpfel waren wie Manna für eine ausgehungerte Seele. Ich glaube, dass ich am Redmond doch herrliche vier Jahre verleben werde.«
    »Und nach den vier Jahren - was kommt dann?«
    »Oh, danach kommt wieder eine Biegung in der Straße«, antwortete Anne gelassen. »Ich habe keine Ahnung, was sich dahinter verbergen mag - ich will es auch gar nicht wissen. Es ist schöner, wenn man es nicht weiß.«
    Die Liebeslaube war an dem Abend ein schönes Plätzchen. Sie lag ruhig und geheimnisvoll dunkel im blassen Mondschein. Sie schlenderten schweigend, aber in bestem Einvernehmen hindurch; keiner von beiden hatte Lust zu reden. »Wenn Gilbert immer so wäre wie heute Abend, wie schön und einfach wäre dann alles«, überlegte Anne.
    Gilbert betrachtete Anne, wie sie so daherging. In ihrem leichten Kleid und rank und schlank, wie sie war, erinnerte sie ihn an eine weiße Schwertlilie.
    »Ob sie sich je etwas aus mir machen wird?«, dachte er plötzlich voller Selbstzweifel.

03 - Abschied und Willkommen
    Charlie Sloane, Gilbert Blythe und Anne Shirley verließen Avonlea am darauffolgenden Montagmorgen. Anne hoffte auf einen schönen Tag. Diana würde sie zum Bahnhof fahren, es würde also ihre für längere Zeit letzte gemeinsame Fahrt sein. Aber als Anne am Sonntagabend ins Bett ging, tobte ein nichts Gutes verheißender Ostwind über Green Gables, was sich am nächsten Morgen erst so richtig zeigen sollte.
    Anne wachte auf und stellte fest, dass Regentropfen gegen ihr Fenster schlugen und auf den grauen Pfützen immer weiter werdende Kreise bildeten. Flügel und Meer waren in Nebel gehüllt, es sah trostlos und trübe aus. Anne zog sich in der trüben grauen Morgendämmerung an, denn sie musste früh aufbrechen, um den Schiffszug zu bekommen. Vergebens kämpfte sie gegen die Tränen an. Sie würde das Zuhause verlassen, das ihr so lieb und teuer war, und etwas sagte ihr, dass es, bis auf die Ferien, für immer war. Aber die Ferien dort zu verbringen war nicht dasselbe, wie dort zu leben. Konnte sie woanders je glücklich sein?
    Das Frühstück auf Green Gables war an diesem Morgen eine ziemlich traurige Angelegenheit. Davy brachte, wohl das erste Mal in seinem Leben, keinen Bissen hinunter, sondern saß rückhaltlos weinend über seinem Porridge. Keiner hatte groß Appetit, bis auf Dora, die vergnügt ihre Portion verspeiste. Dora gehörte zu jenen glücklichen Geschöpfen, die höchst selten einmal etwas anficht. Sicher, sie bedauerte, dass Anne fortging, aber war das ein Grund, sich Rührei auf Toast entgehen zu lassen? Wahrhaftig nicht. Und als sie sah, dass Davy sein Essen nicht anrührte, aß sie auch seine Portion.
    Auf die Minute pünktlich erschien, im Regenmantel und mit roten Backen, Diana mit Pferd und Wagen. Dann ging es ans Abschiednehmen. Mrs Lynde kam herunter, umarmte Anne herzlich und ermahnte sie, auch ja auf ihre Gesundheit zu achten. Manila gab Anne, ohne Tränen zu vergießen, flüchtig einen Kuss und sagte, sie würde doch hoffentlich gleich von ihr hören, wenn sie angekommen wäre. Ein zufälliger Beobachter hätte daraus vielleicht geschlossen, dass Annes Weggang ihr nicht groß etwas ausmachte - es sei denn, besagter Beobachter hätte zufällig den
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