Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
Vom Netzwerk:
Blick in ihren Augen bemerkt. Dora gab Anne steif einen Kuss und zerdrückte aus Anstand zwei kleine Tränen. Davy aber, der, seit sie vom Tisch aufgestanden waren, weinend auf den Stufen der hinteren Veranda gesessen hatte, wollte sich überhaupt nicht von ihr verabschieden. Als er Anne auf sich zukommen sah, sprang er auf, schoss die Hintertreppe hinauf, versteckte sich in einem Kleiderschrank und wollte nicht mehr herauskommen. Sein gedämpftes Weinen war das Letzte, was Anne hörte, als sie Green Gables verließ.
    Den ganzen Weg nach Bright River goss es in Strömen. Charlie und Gilbert standen schon auf dem Bahnsteig, als Anne und Diana ankamen, und der Zug fuhr pfeifend ein. Anne hatte gerade noch Zeit, sich eine Fahrkarte zu kaufen, das Gepäck aufzugeben und sich eilig von Diana zu verabschieden, um dann schnell einzusteigen. Am liebsten wäre sie mit Diana nach Avonlea zurückgefahren. Sie würde vor Heimweh sterben. Wenn wenigstens dieser trostlose Regen aufhörte, der herabregnete, als würde die ganze Welt über den verstrichenen Sommer und alle vergangenen Freuden weinen! Selbst Gilberts Anwesenheit konnte sie nicht trösten, denn Charlie Sloane war auch mit von der Partie und einen Sloane konnte man allerhöchstens bei gutem Wetter ertragen. Bei Regen waren sie einfach grässlich.
    Aber als das Schiff stampfend aus dem Hafen von Charlottetown fuhr, wendeten sich die Dinge zum Besseren. Der Regen hörte auf und die Sonne kam zwischen den aufreißenden Wolken wieder golden zum Vorschein. Sie verlieh der grauen See einen kupferfarbenen Glanz und ließ den Nebel, der die roten Ufer der Insel bedeckte, erstrahlen. Es würde also doch noch ein schöner Tag werden. Außerdem wurde Charlie Sloane seekrank, sodass er nach unten ins Schiff gehen musste und Anne und Gilbert allein an Deck blieben.
    »Zum Glück werden alle Sloanes seekrank, sobald sie auch nur auf dem Wasser sind«, dachte Anne gnadenlos.
    »Wenn Charlie dastünde und so täte, als schaute er auch ganz wehmütig hin, könnte ich unmöglich einen letzten Blick auf die gute alte Insel werfen.«
    »So, wir sind unterwegs«, bemerkte Gilbert ohne jede Sentimentalität.
    »Ja«, sagte Anne und blinzelte heftig mit ihren graugrünen Augen. »Das da muss Nova Scotia sein. Aber Heimat ist, wo man am liebsten ist, und für mich ist das die gute alte Prince Edward Island. Ich kann gar nicht glauben, dass ich nicht immer dort gelebt habe. Die elf Jahre, ehe ich herkam, kommen mir wie ein schlechter Traum vor. Es ist siebenJahre her, dass ich auf diesem Schiff herüberkam - als Mrs Spencer mich aus Hopetown hierher brachte. Ich sehe mich noch genau, in dem scheußlichen alten Wollkleid und dem verblichenen Matrosenhut, wie ich hingerissen vor Neugierde die Decks und Kabinen erforschte. Es war ein schöner Tag. Und wie die roten Ufer der Insel in der Sonne schimmerten! Jetzt überquere ich den Golf wieder. O Gilbert, ich hoffe nur, dass es mir am Redmond und in Kingsport gefällt. Aber ich weiß genau, dass es mir nicht gefällt!«
    »Wo ist denn deine Gelassenheit hin, Anne?«
    »Sie ist völlig begraben unter Einsamkeit und Heimweh. Drei Jahre lang war mein sehnlichster Wunsch, ans Redmond zu gehen - jetzt ist es so weit - und ich wünschte, es wäre nicht so! Schon gut! Ich werde wieder ganz die alte sein, wenn ich mich einmal richtig ausgeweint habe. Das muss sein, »zum Abschied sozusagen - aber damit muss ich warten, bis ich heute Abend im Bett in meiner Unterkunft liege, wo immer die sein mag. Ob Davy wohl schon wieder aus dem Schrank aufgetaucht ist?«
    Es war neun Uhr abends, als ihr Zug in Kingsport ankam und sie im blauweißen Licht des belebten Bahnhofs standen. Anne war ganz durcheinander, aber da wurde sie auch schon von Priscilla Grant geschnappt, die bereits seit Sonntag in Kingsport war.
    »Da bist du ja, meine Liebe! Wahrscheinlich bist du genauso müde wie ich, als ich Samstagabend hier ankam.«
    »Müde! Was redest du da, Priscilla. Ich bin todmüde und ganz durcheinander. Bring um Himmels willen deine arme erledigte Freundin irgendwohin, wo sie wieder zu sich kommen kann.«
    »Ich bringe dich direkt in deine Unterkunft. Die Kutsche wartet schon.«
    »Was ein Segen, dass du da bist, Prissy. Sonst würde ich mich jetzt einfach auf meinen Koffer setzen und bitterlich zu weinen anfangen. Wenigstens ein vertrautes Gesicht.«
    »Ist das da hinten nicht Gilbert Blythe, Anne? Wie groß er geworden ist! Und das da ist doch Charlie Sloane. Er hat
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher