Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
Vom Netzwerk:
sich nicht verändert - kann er ja auch gar nicht! Er hat schon so ausgesehen, als er auf die Welt kam, und mit achtzig wird er noch genauso aussehen. Hier entlang, meine Liebe. In zwanzig Minuten sind wir zu Hause.«
    »Zu Hause!«, stöhnte Anne. »Du meinst wohl, in irgendeiner fürchterlichen Pension in einem noch fürchterlicheren Schlafzimmer mit Zugang vom Flur aus, das auf seinen dreckigen Hinterhof zeigt.«
    »Sie ist nicht fürchterlich, Anne. Da ist die Kutsche. Steig ein -der Fahrer holt deinen Koffer. Also, die Pension - sie ist wirklieh schön, das wirst du morgen früh selbst zugeben, wenn du erst einmal ordentlich geschlafen hast und dein Trübsinn verflogen ist. Es ist ein großes, altmodisches graues Backsteinhaus in der St. John’s Street, nur einen Katzensprung vom College entfernt. Früher wohnten dort begüterte Leute, aber dann kam die St. John’s Street aus der Mode. Heute träumen die Häuser nur mehr von den besseren Tagen. Sie sind so groß, dass die Bewohner Pensionsgäste aufnehmen, damit die Häuser voll sind. Deshalb geben sich auch die Wirtinnen alle Mühe, einen guten Eindruck auf uns zu machen. Sie sind köstlich, Anne - unsere Pensionswirtinnen, meine ich.«
    »Wie viele sind es denn?«
    »Zwei. Miss Hannah Harvey und Miss Ada Harvey. Sie sind Zwillinge und um die fünfzig.«
    »Zwillinge scheinen mich auf Schritt und Tritt zu verfolgen«, lachte Anne.
    »Sie wirken allerdings gar nicht mehr wie Zwillinge, meine Liebe. Seit sie dreißig sind, ist das so. Miss Hannah ist nicht gerade in Anmut alt geworden, und Miss Ada sieht schon mal gar nicht anmutig aus. Ich weiß nicht, ob Miss Hannah überhaupt lachen kann. Bisher jedenfalls habe ich sie noch nicht dabei ertappt, aber Miss Ada lächelt ununterbrochen und das ist noch viel schlimmer. Jedenfalls, sie sind nett und freundlich und sie nehmen jedes Jahr zwei Gäste in Pension, weil Miss Hannah, wirtschaftlich, wie sie nun mal ist, es nicht leiden kann, »freien Raum zu Vergeudern - nicht dass sie es nötig hätten, wie Miss Ada mir seit Samstagabend schon siebenmal versichert hat. Was unsere Zimmer angeht, es stimmt, sie gehen vom Flur ab, und meins zeigt tatsächlich auf den Hinterhof. Dein Zimmer geht nach vorn und zeigt auf den Friedhof Old St. John’s, der genau gegenüber auf der anderen Straßenseite liegt.«
    »Das klingt schaurig«, sagte Anne schaudernd. »Mit Blick auf den Hinterhof wäre mir lieber.«
    »O nein. Warte ab und sieh es dir selbst an. Old St. John’s ist wunderschön. Es ist ein alter Friedhof, der heute nicht mehr in Gebrauch ist und zu den Sehenswürdigkeiten von Kingsport gehört. Aus Spaß bin ich gestern einmal hindurch geschlendert. Er ist ganz mit einer Steinmauer eingefasst, an der riesige Bäume stehen. Es führen Alleen hindurch und es gibt die seltsamsten alten Grabsteine mit den sonderbarsten und merkwürdigsten Inschriften. Heute wird dort natürlich niemand mehr bestattet. Vor einigen Jahren hat man zum Gedenken an die im Krimkrieg gefallenen Soldaten von Nova Scotia ein schönes Denkmal errichtet. Es steht genau am gegenüberliegenden Ende des Eingangs und es bietet >Raum für Phantasien wie du immer zu sagen pflegtest. Da ist dein Koffer - und die Jungen kommen, um uns gute Nacht zu sagen. Muss ich wirklich Charlie Sloane die Hand schütteln, Anne? Er hat immer so kalte, glipschige Hände. Wir sollten fragen, ob sie uns ab und zu besuchen kommen. Miss Hannah hat mir gewichtig mitgeteilt, wir dürften an zwei Abenden in der Woche >Herrenbesuch< empfangen, wenn er zu einer anständigen Uhrzeit wieder geht. Und Miss Ada hat mich, lächelnd, gebeten, dass der Besuch sich doch bitte schön nicht auf ihre schönen Kissen setzt. Ich habe ihr versprochen, darauf zu achten. Aber weiß der Himmel, worauf er sich setzen soll, wenn nicht auf den Fußboden, weil überall Kissen liegen. Sogar oben aufs Klavier hat Miss Ada ein feines Kissen gelegt.« Inzwischen konnte Anne wieder lachen. Priscillas munteres Geplauder hatte den gewünschten Erfolg, nämlich sie aufzuheitern. Das Heimweh verschwand fürs Erste und überkam sie auch nicht wieder, als sie schließlich allein in ihrem kleinen Zimmer war. Sie ging ans Fenster und schaute hinaus. Die Straße unten lag dunkel und still da. Jenseits der Straße leuchtete der Mond über den Bäumen von Old St. John’s; er stand genau über dem großen dunklen Löwenkopf des Denkmals. Anne fragte sich, ob sie Green Gables tatsächlich erst an diesem Morgen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher