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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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Hand aus Roys Hand.
    »Ich kann dich nicht heiraten ... ich kann nicht... ich kann nicht«, rief sie heftig.
    Roy wurde blass - und sah zugleich ziemlich dämlich drein. Er war sich - das war sein eigener Fehler - seiner Sache ganz sicher gewesen.
    »Was meinst du damit?«, stammelte er.
    »Ich kann nicht«, wiederholte Anne verzweifelt. »Ich dachte, ich könnte ... aber ich kann nicht.«
    »Warum denn nicht?«, fragte Roy jetzt schon gefasster.
    »Weil ... du mir nicht alles bedeutest.«
    Ein Hauch von Röte überzog Roys Gesicht.
    »Dann waren diese ganze zwei Jahre nur ein Spiel?«, sagte er langsam.
    »Nein, nein«, keuchte Anne. Oh, wie sollte sie es erklären? Sie konnte es nicht erklären. Es gibt Dinge, die kann man nicht erklären. »Ich hatte gemeint, ich würde dich lieben ... wirklich ... aber jetzt weiß ich, dass es nicht so ist.«
    »Du ruinierst mein Leben«, sagte Roy bitter.
    »Verzeih mir«, flehte Anne elend mit glühenden Wagen und brennenden Augen.
    Roy wandte sich ab, stand ein paar Minuten da und schaute aufs Meer. Als er zu Anne trat, war er wieder kreidebleich. »Du kannst mir gar keine Hoffnungen machen?«, sagte er. Anne schüttelte stumm den Kopf.
    »Dann - auf Wiedersehen«, sagte Roy. »Ich verstehe es nicht -kann nicht glauben, dass du mir die ganze Zeit nur etwas vorgespielt hast. Aber Vorwürfe sind müßig. Du bist die Einzige, die ich je lieben werde. Ich danke dir jedenfalls für deine Freundschaft. Auf Wiedersehen, Anne.«
    »Auf Wiedersehen«, stammelte Anne. Als Roy gegangen war, saß sie lange im Pavillon und betrachtete den weißen Nebel, der vom Hafen landeinwärts kroch. Es war ihre Stunde der Demütigung und Selbstverachtung und der Scham. In Wellen überkam es sie. Und doch, unterschwellig war da das merkwürdige Gefühl zurückgewonnener Freiheit.
    Sie stahl sich im Dunkeln in Pattys Haus und in ihr Zimmer. Phil saß am Fenster.
    »Bleib nur da«, sagte Anne, die rot wurde und damit schon alles vorwegnahm. »Bleib da und hör zu, was ich dir zu erzählen habe. Phil, Roy hat mir einen Antrag gemacht - ich habe Nein gesagt.«
    »Du ... du hast Nein gesagt?«, sagte Phil entgeistert.
    »Ja.«
    »Anne Shirley, hast du noch alle Tassen im Schrank?«
    »Ich denke doch«, sagte Anne matt. »O Phil, schimpf jetzt nicht mit mir. Du verstehst das nicht.«
    »Das verstehe ich wirklich nicht. Seit zwei Jahren machst du Roy Hoffnungen - und jetzt erzählst du mir, du hättest Nein gesagt. Dann hast du also nur dein Spielchen mit ihm getrieben. Anne, das hätte ich von dir nie gedacht.«
    »Es war kein Spiel, glaub mir doch - ich habe ehrlich gedacht, ich liebe ihn, bis zum letzten Moment - und dann ... na ja ... da wusste ich einfach, dass ich ihn nicht heiraten kann.«
    »Ich schätze«, sagte Phil gnadenlos, »du wolltest ihn nur wegen des Geldes heiraten, und dann kam dein besseres Ich zum Vorschein und hat dich davon abgehalten.«
    »Das ist nicht wahr. Sein Geld hat mich nie interessiert. Oh, ich kann es dir so wenig erklären, wie ich es ihm erklären konnte.«
    »Also, ich finde, es ist eine Schande, wie du Roy behandelt hast«, sagte Phil erbittert. »Er sieht gut aus und ist intelligent und reich und anständig. Was willst du noch?«
    »Jemanden, der zu mir passt. Und wir passen nicht zusammen. Anfangs war ich ganz hingerissen von seinem Aussehen und seinen romantischen Komplimenten. Später dachte ich, ich müsste ihn einfach lieben, schließlich war er mein Traummann.«
    »Ich bin schon schlimm genug, weil ich nie weiß, was ich will, aber du bist noch viel schlimmer«, sagte Phil.
    »Aber ich weiß doch genau, was ich will«, protestierte Anne. »Ich habe nur meine Meinung geändert, damit muss ich jetzt einmal fertig werden.«
    »Na ja, es hat wohl keinen Zweck, sich weiter mit dir darüber zu unterhalten.«
    »Ist auch nicht nötig, Phil. Ich bin sowieso schon die Gedemütigte. Das verdirbt alles, was vorher war. Ich werde mich nie an die Redmond-Zeiten erinnern, ohne an die Demütigung dieses Abends denken zu müssen. Roy hasst mich - und du hasst mich - ich hasse mich selbst.«
    »Du armer Schatz«, sagte Phil gerührt. »Komm und lass dich trösten. Ich habe kein Recht mit dir zu schimpfen. Ich hätte schließlich auch Alec oder Alonzo geheiratet, hätte ich nicht Jo kennen gelernt. O Anne, alles im Leben ist immer so verwickelt. Es ist ganz und gar nicht klar und einfach, wie es in Romanen immer steht.«
    »Hoffentlich stellt mir nie mehr jemand einen Antrag«,
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