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Anne in Kingsport

Titel: Anne in Kingsport
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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betrachten. Sie hatte gelauscht, wenn im Herbst Regentropfen gegen das Fenster trommelten, und im Frühling die Rotkehlchen auf der Fensterbank begrüßt. Sie fragte sich, ob etwas von ihr, wenn sie für immer das Zimmer verließ, in dem sie sich gefreut und gelitten und gelacht und geweint hatte, etwas Unsichtbares und dennoch Wirkliches nicht doch darin zurückblieb.
    »Ich glaube«, sagte Phil, »dass ein Zimmer, in dem man richtig gelebt hat, untrennbar mit einem verbunden bleibt und eine eigene Ausstrahlung hat. Wenn ich in fünfzig Jahren in dies Zimmer käme, dann würde es mich mit >Anne, Anne< begrüßen. Was haben wir hier für herrliche Zeiten verbracht! All die Gespräche und Scherze und die Treffen mit guten Freunden! Ach, du meine Güte! Im Juni heirate ich ja schon Jo und sicher werden wir unbeschreiblich glücklich sein. Aber jetzt wünsche ich mir, dass diese schöne Zeit ewig so weitergeht.«
    »Ich mir auch«, gab Anne zu. »Und wenn wir später noch schönere Dinge erleben sollten, wir werden nie wieder ein solch herrliches vogelfreies Leben führen können wie hier. Es ist ein für allemal vorbei, Phil.«
    »Was soll eigentlich mit Rusty werden?«, fragte Phil, als Annes Lieblingskatze ins Zimmer getappt kam.
    »Ich nehme ihn und Joseph und Katze Sarah mit zu mir nach Hause«, verkündete Tante Jamesina, die Rusty gefolgt war. »Das kann man den Katzen nicht antun, sie zu trennen, wo sie sich aneinander gewöhnt haben. Das ist für Katzen nämlich genauso schwer wie für Menschen.«
    »Es fällt mir schwer, mich von Rusty zu trennen«, sagte Anne bedauernd. »Aber es hätte keinen Zweck, ihn mit nach Green Gables zu nehmen. Marilla mag nämlich keine Katzen und Davy würde ihn glatt zu Tode scheuchen. Außerdem werde ich sowieso wohl nicht lange zu Hause sein. Man hat mir nämlich eine Stelle an der Summerside-High-School angeboten.«
    »Nimmst du sie an?«, fragte Phil.
    »Ich ... ich habe mich noch nicht entschieden«, antwortete Anne unsicher und wurde rot.
    Phil nickte verstehend. Natürlich konnte Anne keine Pläne machen, solange Roy kein klares Wort gesprochen hatte. Das würde er bald tun - kein Zweifel. Und es gab keinen Zweifel, dass Anne Ja sagen würde, wenn er sie fragte: »Willst du, ja?« Anne betrachtete die Sache mit einer kaum zu erschütternden Gleichgültigkeit. Sie war verliebt in Roy. Gewiss, es war nicht ganz so, wie sie sich die Liebe eigentlich vorgestellt hatte. Aber war im Leben überhaupt irgendetwas so, fragte Anne sich matt, wie man es sich in der Phantasie ausmalte? Roy war schon ganz nett und sie würden sicher glücklich sein, obwohl eine gewisse Würze fehlte. Als Roy sie am Abend besuchen kam und Anne fragte, ob sie nicht Lust auf einen Spaziergang im Park hätte, da wussten alle von Pattys Haus, was er sie fragen wollte; und alle wussten, oder dachten es zumindest, wie Annes Antwort lauten würde.
    »Anne ist ein Glückskind«, sagte Tante Jamesina.
    »Findest du?«, sagte Stella und zuckte mit den Schultern. »Roy ist lieb und nett und so. Aber das ist auch alles.«
    »Das klingt ja sehr nach Eifersucht, Stella Maynard«, sagte Tante Jamesina tadelnd.
    »Stimmt - aber ich bin nicht eifersüchtig«, sagte Stella ruhig. »Ich liebe Anne und ich mag Roy. Alle sagen, sie würde eine tolle Partie machen, sogar Mrs Gardner hat Anne inzwischen ins Herz geschlossen. Das klingt alles ganz paradiesisch, aber ich habe so meine Zweifel. Du kannst davon halten, was du willst, Tante Jamesina.«
    Roy bat Anne in dem kleinen Pavillon am Hafen, wo sie sich an dem regnerischen Tag zum ersten Mal miteinander unterhalten hatten, seine Frau zu werden. Anne fand es sehr romantisch, dass er ausgerechnet den Ort dafür ausgesucht hatte. Sein Antrag war in so schöne Worte gefasst, als hätte er es irgendwo nachgelesen, so wie seinerzeit einer von Ruby Gillis’ Verehrern es in einem Buch über »Alles über Heiratsanträge und Heiraten« nachgelesen hatte. Er war einfach tadellos - und ernst gemeint. Roy meinte es ernst. Nicht ein falscher Ton brachte Missklang in die Symphonie. Anne fühlte, dass sie eigentlich von Kopf bis Fuß erschauern müsste. Aber es war nicht so, es ließ sie völlig kalt. Als Roy auf die Antwort wartete, bewegte sie die Lippen, um ihr schicksalschweres ja zu sagen.
    Aber da - zitterte sie, als würde sie taumelnd vor einem Abgrund stehen. Sie erlebte einen jener Augenblicke, in denen einem blitzartig mehr klar wird als in all den Jahren davor. Sie zog ihre
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