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Das schwarze Messer

Das schwarze Messer

Titel: Das schwarze Messer
Autoren: Andreas Eschbach
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N eblige Kühle hing zwischen den Bäumen, als Alain Whitstock II. das von zwei Löwen aus grauem Stein bewachte Holztor durchschritt, das den Zugang zum Schrein darstellte, und der flach ansteigenden Treppe dahinter folgte. Es war noch früh am Morgen. Morgenstund hat Gold im Mund, dachte Alain Whitstock II., und der frühe Vogel fängt den Wurm.
    Gleich darauf furchte er verärgert die Brauen. Das waren zwei der Lieblingssprüche seines Vaters gewesen. Dass er die nicht aus seinem Kopf bekam! Sein Vater war tot, er würde keinen Wurm mehr fangen, nie wieder. Und was sein Gold anbelangte, grenzte es an Schwerarbeit, es innerhalb eines Menschenlebens zurück unter die Leute zu bringen. Ein Glück, dass Geldausgeben etwas war, das man zu jeder Tageszeit tun konnte.
    Es musste an der Stille liegen, dass ihm solche Gedanken kamen. Alles, was er hörte, waren seine eigenen Schritte, und irgendwo tropfte Wasser, leise, bedächtig, stimmungsvoll. Die Vorstellung, sich immer noch im Stadtgebiet von Tokio zu befinden, hatte etwas Irreales.
    Die Treppe endete auf einem schlichten Platz mit einem Wasserbecken in der Mitte. Schöpfkellen aus Bambus warteten auf Gläubige, die sich rituell reinigen wollten. Alain ignorierte das Becken, schließlich war er Tourist, kein Shintoist. Er bezweifelte außerdem, dass es ihm als Anglikaner gestattet war, Rituale fremder Religionen auszuführen.
    Sowieso war weit und breit niemand zu sehen. Er schien der einzige Besucher zu sein. Und wer immer das Gitter unten beim Zugang aufgeschlossen hatte, er hatte sich wieder verdrückt.
    Tatsächlich hatte Alain bislang niemanden getroffen, der diesen Schrein kannte. Seitou-Jinjya? Die Rezeptionistin im Hotel hatte ihn nur mit großen Augen angesehen und sich, wie es Japanergerne taten, vieltausendmal für ihre Unwissenheit entschuldigt. Ja, das müsse ein Shinto-Schrein sein, und sie hatte bestätigt, dass man den Namen mit »Insel der Heiligen« übersetzen könne, bloß gehört hatte sie noch nie davon. Der Mann im Tourist Office hatte schlicht abgestritten, dass ein Schrein dieses Namens existiere. Auch der Taxifahrer war ratlos gewesen.
    Aber Alain hatte einen Zettel mit der genauen Adresse griffbereit gehabt. Und so war er doch hierher gelangt.
    Ironie des Schicksals, dass er das ausgerechnet seinem Vater verdankte, dachte Alain Whitstock II. und trat durch das Tor mit den zwei Querbalken. Denn er besuchte diesen Schrein nur aus einem einzigen Grund: um darin ein weiteres Stück seiner Rache an seinem Vater zu vollziehen.
    Alain Whitstock I. war ein penibler Protokollant seines Lebens gewesen. Nach dem Krieg war er als Wirtschaftsberater nach Japan gekommen, um mitzuhelfen, das zerstörte Land neu aufzubauen, und seine Tagebücher aus jener Zeit ließen eindeutig Begeisterung für diese Situation erkennen: Es ist ein Segen , hatte er geschrieben, dass der Feuersturm des Krieges all das Alte hinweggefegt hat und es den Japanern damit ermöglicht, völlig neu anzufangen. Es sind nur wenige Stadtteile erhalten geblieben, und von denen werden die meisten doch noch abgerissen. Der Rest ist quasi Neuland. Wären die Söhne Nippons imstande, auch ihre überkommenen Traditionen vollends über Bord zu werfen, nichts könnte sie mehr aufhalten.
    Neuem gegenüber war sein Vater zeitlebens aufgeschlossen gewesen. Ob Gemälde, Häuser, Kleidungsstücke: Nichts hatte ihm je zu neu sein können. Jede neue Erfindung hatte sein Interesse geweckt, jedes neue Gerät hatte er sofort anschaffen müssen.
    »Das ist die Zukunft«, hatte er seinem Sohn oft erklärt. Und dass die Zukunft großartig werden würde, daran hatte er so wenig gezweifelt wie daran, dass nichts aus der Vergangenheit es wert war, aufbewahrt oder gar geschätzt zu werden.
    Während seiner Zeit in Japan hatte er hier in der Nähe gewohnt. Seine Tagebücher waren präzise Protokolle seines damaligen Lebens. Er hatte über alle Personen Buch geführt, mit denen er zu tun gehabt hatte, die Fortschritte seiner verschiedenen Projekte vermerkt und sorgfältig festgehalten, wann er welches Restaurant besucht und was er dort gegessen hatte. Geradezu manisch hatte er Adressen, Telefonnummern, Öffnungszeiten, Arbeitsstunden, gefahrene Kilometer und ausgegebene Beträge notiert.
    Die Einzigen, die in seinen Tagebüchern nie vorkamen, waren seine Frau und sein Sohn.
    Auch über die Freizeitaktivitäten von Alain WhitstockI. gaben die Tagebücher genauestens Auskunft. Besuche in Bordellen (mit den
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