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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet
Autoren: Jonathan Safran Foer
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entdecken waren.
    Die Zigeuner brachen die Zelte und Strohhütten ab, lebten ohne ein Dach über dem Kopf und klammerten sich an die Erde wie menschliches Moos.
    Eine eigenartige Untätigkeit legte sich über Trachimbrod. Die Einwohner, die einst so viele Dinge angefasst hatten, dass man nicht mehr gewusst hatte, was natürlich war und was nicht, rührten nun keinen Finger mehr. An die Stelle des Handelns trat das Denken. Die Erinnerung. Alles erinnerte irgendjemanden an irgendetwas, was anfangs reizvoll war - wenn der Geruch eines verbrannten Streichholzes einen lange zurückliegenden Geburtstag oder eine verschwitzte Handfläche den ersten Kuss heraufbeschwor - , bald jedoch lähmend wirkte. Erinnerung zeugte Erinnerung zeugte Erinnerung. Die Menschen wurden zu Verkörperungen jener Legende, die sie so oft gehört hatten: der Legende vom verrückten Grundbesitzer Sofiowka, der sich in weiße Schnur gewickelt hatte, der versuchte, sich mit Hilfe von Erinnerung an Erinnerung zu erinnern, der an den Befehl gebunden war, sich zu erinnern, der vergebens bestrebt war, sich an einen Anfang oder ein Ende zu erinnern.
    Um ihren Erinnerungen einen Sinn zu geben, zeichneten Männer Entwicklungsdiagramme (die ihrerseits Erinnerungen an Familienstammbäume waren). Wie Theseus im Labyrinth wollten sie ihren Weg zurückverfolgen, doch sie verirrten sich nur immer mehr.

    Für die Frauen war es schwerer. Da sie ihre Erinnerungsfetzen nicht am Arbeitsplatz oder in der Synagoge mit anderen teilen konnten, mussten sie allein leiden, vor Wäschebergen und Backformen. Sie hatten niemanden, der ihnen bei ihrer Suche nach Anfängen half, niemanden, den sie fragen konnten, was das Muster ausgepresster Himbeeren mit einer Verbrühung zu tun haben mochte oder warum ihnen das Herz aus der Brust fiel und vor ihnen auf dem Boden landete, wenn sie Kinder im Brod spielen hörten. Erinnerung sollte die Zeit ausfüllen, doch sie erzeugte ein Loch, das gefüllt werden musste. Jede Sekunde hatte eine Länge von zweihundert Metern, die gehend oder kriechend zurückgelegt werden mussten. Die kommende Stunde war so weit entfernt, dass man sie noch gar nicht sehen konnte. Das Morgen war hinter dem Horizont, und ihn zu erreichen würde einen ganzen Tag dauern.
    Doch am schwersten hatten es die Kinder, denn obgleich es den Anschein hatte, als hätten sie weniger Erinnerungen, die sie heimsuchen konnten, spürten sie den Stachel der Erinnerung so deutlich wie die Erwachsenen des Schtetls. Ihre Schnüre gehörten noch nicht einmal ihnen selbst; vielmehr wurden sie ihnen von Eltern und Großeltern umgebunden -es waren Schnüre, deren anderes Ende nicht an irgendetwas befestigt war, sondern lose irgendwo in der Dunkelheit hing.
    Ein untätiger Erinnerer zu sein ist das Einzige, was noch schmerzhafter ist, als ein aktiver Vergesser zu sein. Safran lag im Bett und versuchte, die Ereignisse seines siebzehnjährigen Lebens zu einer zusammenhängenden Handlung aufzufädeln, zu etwas, das er begreifen konnte, das eine strukturierte Me-taphorik, eine erkennbare Symbolik besaß. Wo waren die Symmetrien? Wo die Brüche? Wo war die Bedeutung dessen, was geschehen war? Er war mit Zähnen geboren worden, und darum hatte seine Mutter ihn abgestillt, und darum war das Leben aus seinem Arm gewichen, und darum liebten ihn die Frauen, und darum tat er, was er tat, und darum war er, was er war. Aber warum war er mit Zähnen geboren worden? Und warum hatte seine Mutter ihre Milch nicht einfach in eine Flasche gepumpt? Und warum hatte er einen leblosen Arm und nicht ein lebloses Bein? Und warum liebten alle einen leblosen Körperteil? Und warum tat er, was er tat? Und warum war er, was er war?
    Er konnte sich nicht konzentrieren. Wie eine Krankheit hatte ihn die Liebe von innen heraus überfallen. Verstopfung, Übelkeit und körperliche Schwäche machten ihm sehr zu schaffen. Im Wasser der neuen Porzellantoilette sah er sein Spiegelbild. Es war ein Gesicht, das er nicht wieder erkannte: schlaffe Wangen mit weißen Bartstoppeln, Tränensäcke (die, so schien es ihm, all die Freudentränen enthielten, die er nicht weinte), aufgesprungene, dicke Lippen.
    Doch es war nicht dasselbe Bild wie am Morgen zuvor, als er sein Gesicht in den Glasaugen der Sonnenuhr gesehen hatte. Seine Alterung war kein natürlicher Prozess - vielmehr wurde er alt, weil er ein Opfer seiner Liebe war, die ihrerseits erst einen Tag alt war. Er war noch ein Junge und doch kein Junge mehr. Er war ein Mann und
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