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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet
Autoren: Jonathan Safran Foer
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ab, die dafür sprachen, mit ihr durchzubrennen und Trachimbrod in dem Bewusstsein zu verlassen, dass er nie würde zurückkehren können. Er liebte seine Familie - jedenfalls seine Mutter - , doch wie lange würde es dauern, bis er sich nicht mehr nach ihr sehnte? Wenn er es in Worte fasste, klang es schrecklich, aber, so fragte er sich, gab es denn etwas, das er nicht hinter sich lassen konnte? Seine Gedanken waren so hässlich und so aufrichtig: Mit Ausnahme des Zigeunermädchens und seiner Mutter konnten alle sterben, ohne dass sein Leben beeinträchtigt worden wäre. Mit Ausnahme der Zeit, die er mit dem Zigeunermädchen und seiner Mutter verbracht hatte, war jeder Teil seines Lebens unzulänglich und besaß keine Daseinsberechtigung. Er war im Begriff, zu einem Menschen zu werden, dem die Hälfte dessen, wofür er bisher gelebt hatte, genommen worden war.
    Er dachte an all die Witwen, mit denen er in den vergangenen sieben Jahren zu tun gehabt hatte: an Golda R. und ihre verhängten Spiegel, an Lista P.s Blut, das nicht für ihn bestimmt gewesen war. Er dachte an all die Jungfrauen, die insgesamt nichts bedeuteten. Er dachte, während er den nervösen, jungfräulichen Körper seiner frisch angetrauten Frau sanft auf das Ehebett legte, an Brod, die Verfasserin der 613 Traurigkeiten, und an Jankel und seine Abakusperle. Er dachte, während er Zoscha erklärte, es werde nur beim ersten Mal wehtun, an Zoscha, die er kaum kannte, und an ihre Schwester, der er hatte versprechen müssen, dass das Rendezvous nach der Trauungszeremonie keine einmalige Sache bleiben würde.
    Er dachte an die Legende von Trachim und daran, woher dieser wohl gekommen war und wo sein Leichnam jetzt sein mochte. Er dachte an Trachims Wagen: an die sich schlängelnden Schlangen aus weißer Schnur, an den knittrigen Samthandschuh mit ausgestreckten Fingern, an den Vorsatz: Ich werde... ich werde...
    Und dann geschah etwas Außergewöhnliches. Das Haus erbebte so heftig, dass die Erschütterungen, die man früher am Tag erlebt hatte, sich daneben ausnahmen wie das Bäuerchen eines Babys. Ein entferntes KABUMM! Näher kommend: KABUMM! kabuuumm ! Licht drang durch die Ritzen zwischen den Brettern der Kellertür und erfüllte den Raum mit dem warmen und dynamischen Licht der Explosionen deutscher Bomben in den nahe gelegenen Hügeln. KABUUUUUMM! Zoscha schrie vor Angst, Angst vor der körperlichen Liebe, vor dem Krieg, vor der nicht-körperlichen Liebe, vor dem Sterben, während mein Großvater erfüllt war von einer gewaltigen koitalen Energie, und als die sich entlud - KA-BUUUUUUUUMM! KA-BUUUUUUUUUUUUUUUUMMM! KA-KA-KA-KA-KA-KA-BUUUUUUUUUUUUUUUUUMM! -, als er am Rand des zivilisierten Menschseins in den Abgrund, in den freien Fall unverfälschter animalischer Verzückung stürzte und in sieben endlosen Sekunden die mittlerweile über 2700 bedeutungslosen Liebesakte mehr als wettmachte, als er sich in einer unaufhaltsamen Flutwelle in Zoscha ergoss und ein Licht ins Universum sandte, das stark genug war, um die Deutschen, wäre es nicht gestreut und verschwendet, sondern gebündelt und genutzt worden, vernichtend zu schlagen, fragte er sich, ob eine der deutschen Bomben vielleicht das Ehebett getroffen, sich wie ein Keil zwischen den bebenden Körper seiner frisch angetrauten Frau und seinen eigenen gezwängt und Trachimbrod ausgelöscht hatte. Doch als er auf den Felsen am Grund der Schlucht aufschlug, als die sieben Sekunden des Bombardements vorüber waren und er seinen Kopf auf das von Zoschas Tränen und seinem Samen feuchte Kissen sinken ließ, begriff er, dass er nicht tot, sondern verliebt war.

    So wie der erste Orgasmus meines Großvaters nicht für Zoscha bestimmt war, waren die Bomben, die ihn ausgelöst hatten, nicht für Trachimbrod, sondern für einen Ort in den Hügeln bei Rowno bestimmt. Es dauerte noch neun Monate, bis das Schtetl zum Ziel eines direkten deutschen Angriffs wurde - und dann ausgerechnet am Trachimtag. Doch das Wasser des Brod schäumte in jener Nacht mit solcher Wucht gegen das Ufer, als wäre der Krieg bereits über Trachimbrod hereingebrochen, der den Explosionen folgende Wind dröhnte mit derselben Gewalt, und die Einwohner des Schtetls zitterten, als wären ihnen die Ziele auf den Körper tätowiert. In diesem Augenblick - am 18.Juni 1941 um 21 Uhr 28 - veränderte sich alles.
    Die Schlote von Ardischt drehten ihre Zigaretten um und steckten das glühende Ende in den Mund, damit sie aus der Ferne nicht zu
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