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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet
Autoren: Jonathan Safran Foer
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doch noch kein Mann. Er war gefangen zwischen dem letzten Kuss seiner Mutter und dem ersten Kuss, dem er seinem Kind geben würde, zwischen dem Krieg, der gewesen war, und dem, der noch kommen würde.
    Am Morgen, nachdem die Bomben gefallen waren, fand im Theater eine Schtetl-Versammlung statt - die erste seit der Debatte, die es vor einigen Jahren über das elektrische Licht gegeben hatte. Man wollte über die Folgen eines Krieges reden, dessen Weg genau über Trachimbrod hinwegzuführen schien.
    RAV D.
    (hält ein Stück Papier in die Luft) Mein Sohn, der tapfer an der polnischen Front kämpft, schreibt, dass die Nazis unbeschreibliche Gräueltaten begehen und dass Trachimbrod sich auf das Schlimmste gefasst machen soll. Er schreibt, wir sollen (sieht auf das Papier und liest gestikulierend) »alles sofort in die Wege leiten«.
    ARI F.
    Wovon redest du? Wir sollten zu den Nazis gehen! (fuchtelt mit dein Zeigefinger über seinem Kopf und ruft:) Die Ukrainer sind doch unser Untergang! Ihr habt gehört, was sie in Lwow getan haben! (Das erinnert mich an meine Geburt [ich wurde auf dem Fußboden im Haus des Rabbis geboren, müsst ihr wissen (ich habe noch die Mischung aus den Gerüchen nach Plazenta und Judaica in der Nase [er hatte wunderschöne Kerzenleuchter (aus Österreich [wenn ich mich nicht irre (oder aus Deutschland)])])])...
    RAV D.
    (verwirrt, fuchtelnd) Wovon redest du eigentlich?
    ARI F.
    (äußerst aufrichtig verwirrt) Ich kann mich nicht erinnern. Von den Ukrainern. Von meiner Geburt. Von Kerzen. Ich weiß, dass ich auf etwas hinauswollte. Wo war ich noch?
    Und so war es bei allen, die etwas sagen wollten: Ihre Gedanken verfingen sich in Erinnerungen. Aus Worten wurden Flutwellen von Gedanken, ohne Anfang und Ende, die den Sprecher ertränkten, bevor er die Rettungsinsel dessen, worauf er hinauswollte, erreichen konnte. Es war unmöglich sich zu erinnern, was einer meinte, was der Sinn hinter all den Wörtern war.
    Anfangs waren die Schtetl-Bewohner schrecklich verängstigt. Täglich fanden Versammlungen statt. Man las Zeitungsberichte (NAZIS TÖTEN 8200 MENSCHEN AN DER UKRAINISCHEN GRENZE) mit der Sorgfalt von Nachrichtenredakteuren, man entwarf Pläne und verwarf sie wieder, man breitete große Landkarten auf Tischen aus, wo sie wie Patienten lagen, die auf eine Operation warteten. Aber dann wurden die Versammlungen nur noch jeden zweiten Tag einberufen, dann jeden zweiten zweiten Tag, und schließlich nur noch einmal pro Woche, und es waren weniger Planungssitzungen als vielmehr Treffen für Alleinstehende. Da sie nicht durch weitere Bombardements aufgestört wurden, hatten die meisten Trachimbroder schon nach zwei Monaten alle Splitter der Angst entfernt, von denen sie in jener Nacht getroffen worden waren.
    Sie hatten zwar nicht vergessen, sich aber daran gewöhnt. An die Stelle der Angst trat die Erinnerung. In ihrem Bemühen, sich daran zu erinnern, an was sie sich so sehr zu erinnern versuchten, konnten sie endlich wieder denken, anstatt immer nur Angst vor dem Krieg zu haben. Die Erinnerungen an Geburt, Kindheit und Jugend hallten lauter wider als das Getöse explodierender Bomben.
    Also geschah nichts. Es wurden keine Entscheidungen gefällt. Keine Koffer gepackt oder Häuser geräumt. Keine Gräben gegraben oder Gebäude befestigt. Nichts. Sie warteten wie Toren, sie legten die Hände in den Schoß und sprachen wie Toren über damals, als Simon D. diese urkomische Sache mit der Pflaume gemacht hatte, und alle konnten stundenlang darüber lachen, obwohl niemand sich genau daran erinnern konnte. Sie warteten darauf zu sterben, und wir können es ihnen nicht vorwerfen, denn wir hätten dasselbe getan, und wir tun auch heute dasselbe. Sie lachten und scherzten. Sie dachten an Geburtstagskerzen und warteten darauf zu sterben, und wir müssen ihnen vergeben. Sie wickelten Menachems riesige Forelle in Zeitungspapier (NAZIS rücken auf lutsk vor) und trugen gekochtes Rindfleisch in Körben zu den Picknicks, die sie unter dem Blätterdach der hohen Bäume beim kleinen Wasserfall veranstalteten.
    Nach seinem ersten Orgasmus war mein Großvater bettlägerig und konnte deshalb nicht an der ersten Schtetl-Versammlung teilnehmen. Zoscha bewältigte ihren Orgasmus mit mehr Würde, vielleicht weil sie gar keinen gehabt hatte, vielleicht aber auch, weil sie, obgleich es ihr gefiel, eine verheiratete Frau zu sein und Safrans leblosen Arm zu berühren, noch nicht verliebt war. Sie wechselte die samengetränkten
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