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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Haar aussah wie das eines geistig gesunden Menschen, selbst wenn ich ihr dafür mit dem Ellbogen auf die Nase schlug oder ihr eine Rippe brach. Sie putzte das Sägeblatt. Sie trug die Spuren meiner Zähne auf ihrem Körper wie andere Frauen ihren Schmuck. Das Loch in der Wand spielte keine Rolle. Wir kümmerten uns nicht darum. Wir teilten uns ein Zimmer. Sie war bei mir. All das tat sie und noch viel mehr - Dinge, die ich niemals irgendjemandem verraten würde, und dabei hat sie mich nicht mal geliebt. Das ist Liebe.
    Ich will dir eine Geschichte erzählen, fuhr die Sonnenuhr fort. Das Haus, in das deine Ur-ur-ur-Großmutter und ich nach unserer Heirat zogen, stand am kleinen Wasserfall, am Ende der jüdisch-menschlichen Grenze. Es hatte Holzböden und hohe Fenster und bot genug Platz für eine große Familie. Es war ein schönes Haus. Ein gutes Haus.
    Aber das Wasser, sagte deine Ur-ur-ur-Großmutter. Ich verstehe mein eigenes Wort nicht.
    Du brauchst Zeit, redete ich ihr zu. Nur ein bisschen Zeit.
    Und ich kann dir sagen: Obwohl das Haus ungewöhnlich feucht war, obwohl der Vorgarten infolge des Sprühnebels ständig matschig war, obwohl die Wände alle sechs Monate repariert werden mussten und Farbflocken von der Decke rieselten wie Schnee, der sich an keine Jahreszeit hielt, stimmt es, was man über Leute sagt, die an einem Wasserfall leben.
    Was, fragte mein Großvater, sagt man denn über die?
    Man sagt, dass Leute, die an einem Wasserfall leben, das Wasser nicht hören.
    Sagt man das?
    Das sagt man. Natürlich hatte deine Ur-ur-ur-Großmutter Recht. Anfangs war es schrecklich. Wir hielten es nicht länger als ein paar
    Stunden am Stück in dem Haus aus. In den ersten beiden Wochen konnten wir keine Nacht durchschlafen, und tagsüber stritten wir uns, nur um lauter zu sein als das Wasser. Wh stritten uns so oft, um nicht zu vergessen, dass wir uns liebten und nicht hassten.
    Aber in den nächsten Wochen war es schon ein bisschen besser. Wir konnten jede Nacht ein paar Stunden tief und fest schlafen, und beim Essen verspürten wir nur ein leises Unbehagen. Deine Ur-ur-ur-Großmutter verfluchte das Wasser (dessen Personifikation inzwischen anatomisch wesentlich verfeinert war), allerdings weniger oft und weniger wütend. Auch ihre Angriffe auf mich ließen nach. Es ist deine Schuld, sagte sie immer. Du wolltest ja hier leben.
    Das Leben ging weiter, wie das Leben eben weitergeht, und die Zeit verging, wie die Zeit eben vergeht, und dann, nach etwas über zwei Monaten... Hörst du das?, fragte ich sie an einem der seltenen Morgen, an denen wir gemeinsam am Frühstückstisch saßen. Hörst du? Ich stellte die Kaffeetasse ab und stand auf. Hörst du das?
    Was?, fragte sie.
    Genau!, sagte ich, rannte hinaus und schüttelte die Faust in Richtung des Wasserfalls. Genau!
    Wir tanzten herum, wir spritzten Wasser in die Luft, und wir hörten nichts. Versöhnliche Umarmungen und Schreie des Triumphs in Richtung Wasserfall wechselten sich ab. Wer hat jetzt gewonnen? Wer hat jetzt gewonnen, Wasserfall? Wir! Wir haben gewonnen!
    So ist es, wenn man an einem Wasserfall lebt, Safran. Jede Witwe wacht eines Morgens auf - vielleicht nach einem Jahr reiner, unerschütterlicher Trauer - und stellt fest, dass sie die ganze Nacht tief und fest geschlafen hat, dass sie imstande sein wird zu frühstücken und dass sie den Geist ihres Mannes nicht mehr ununterbrochen, sondern nur noch hin und wieder hört. Ihr Kummer ist einer nützlichen Traurigkeit gewichen. Alle Eltern, die ein Kind verloren haben, finden irgendwann wieder zum Lachen zurück. Die Klangfarbe der Trauer verblasst. Die Schneide wird stumpfer. Der Schmerz lässt nach. Jede Liebe ist aus einem Verlust geschnitzt. Bei meiner war es so. Bei deiner ist es so. Bei der deiner Ur-ur-ur-Enkel wird es so sein. Aber wir lernen, in dieser Liebe zu leben.
    Mein Großvater nickte, als hätte er verstanden.
    Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte, fuhr die Sonnenuhr fort. Ich habe das begriffen, als ich zum ersten Mal versuchte, ein Geheimnis zuflüstern, und es nicht konnte, oder eine Melodie zu pfeifen, ohne die Herzen derer, die in hundert Meter Umkreis waren, mit Furcht zu erfüllen - als meine Kollegen in der Mühle mich anflehten, die Stimme zu senken, denn: Wer kann noch denken, wenn einer so schreit? Worauf ich antwortete: SCHREIE ICH DENN WIRKLICH?
    Stille, und dann: Der Himmel bezog sich, der Vorhang der Wolken öffnete sich, die Hände des Donners klatschten. Das
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