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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet
Autoren: Jonathan Safran Foer
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stellte.
    Man sagt, die Zeiten ändern sich. Grenzen verschieben sich unter dem Druck des Krieges, Orte, die wir seit früher Kindheit kennen, haben jetzt neue Namen, und einige unserer Söhne können bei diesem Freudenfest nicht dabei sein, weil sie Dienst in der Armee tun müssen. Aber es gibt auch gute Nachrichten: Ich freue mich, verkünden zu können, dass es in drei Monaten das erste Automobil in Trachimbrodgeben wird! (Ein Raunen ging durch die Zuhörer, gefolgt von donnerndem Beifall.) Nun, sagte er, trat hinter das junge Paar und legte eine Hand auf die Schulter seiner Tochter und die andere auf die Schulter meines Großvaters, diesen Augenblick, diesen frühen Nachmittag des 18. Juni 1941 möchte ich mir für immer bewahren.
    Das Zigeunermädchen sagte kein Wort - zwar hasste sie Zoscha, doch die Hochzeit wollte sie ihr nicht verderben. Sie drückte sich nur an die linke Seite meines Großvaters und nahm unter dem Tisch seine gesunde Hand. (Schob sie vielleicht sogar einen Zettel hinein?)
    Ich will diesen Augenblick in einem Medaillon über meinem Herzen tragen, fuhr der stolze Vater fort und ging, das leere Kristallglas in der ausgestreckten Hand, durch den Raum. Ich will diesen Augenblick für immer bewahren, denn ich bin noch nie in meinem Leben so glücklich gewesen und will zufrieden sein, wenn ich für den Rest meines Lebens nie mehr auch nur halb so glücklich sein werde - bis zur Hochzeit meiner anderen Tochter natürlich. Ja, sagte er und gebot den lachenden Gästen zu schweigen, wenn ich für den Rest meines Lebens keinen einzigen solchen Augenblick mehr erleben sollte, würde ich mich nicht beklagen. Dies soll der Augenblick sein, der nie zu Ende geht.
    Mein Großvater drückte die Hand des Zigeunermädchens, als wollte er sagen: Noch ist es nicht zu spät. Noch haben wir Zeit. Wir könnten gemeinsam durchbrennen, alles hinter uns lassen, uns niemals umsehen und uns retten.
    Sie drückte seine Hand, als wollte sie sagen: Dir ist nicht vergeben.
    Menachem kämpfte mit den Tränen und fuhr fort: Bitte erhebt mit mir eure leeren Gläser. Auf meine Tochter und meinen neuen Sohn, auf die Kinder, die sie haben werden, auf die Kinder dieser Kinder, auf das Leben!
    L'chaim!, antworteten die Gäste an den langen Tischreihen.
    Doch bevor der Brautvater sich wieder setzen konnte, bevor die Gläser Gelegenheit hatten, die Spiegelbilder lächelnder Gesichter hoffnungsvoll erklingen zu lassen, fuhr erneut ein unheimlicher Windstoß durch das Haus. Erneut wurden die Platzkarten durch die Luft gewirbelt, erneut wurde der Blumenschmuck umgestoßen, und diesmal landete Erde auf dem weißen Tischtuch und auf beinahe jedem Schoß. Die Zigeunerinnen eilten herbei, um aufzuräumen, und mein Großvater flüsterte in Zoschas Ohr, das ihm wie das Ohr des Zigeunermädchens erschien: Alles wird gut.
    Das Zigeunermädchen, das echte Zigeunermädchen, hatte meinem Großvater tatsächlich einen Zettel zugeschoben, doch fiel ihm dieser in dem allgemeinen Durcheinander aus der Hand und wurde von vielen Füßen - von Libbys, Listas und Omelers Füßen und schließlich von denen des namenlosen Fischhändlers - zum unteren Ende der Tafel getreten, wo er unter einem vom Tisch gefallenen Weinglas landete, unter dessen Kelch er sicher war, bis eine der Zigeunerinnen das Glas am Abend aufhob und den Zettel (zusammen mit vom Tisch gefallenem Essen, Erde vom Blumenschmuck und Staubflocken) in eine große Papiertüte kehrte. Diese wiederum wurde von einer anderen Zigeunerin vor die Haustür gestellt. Am nächsten Morgen wurde die Tüte von dem zwanghaften Müllmann Feigel B. abgeholt, zu einem Feld auf der anderen Seite des Flusses gebracht - dem Feld, wo nur zu bald Kowels erste Massenexekution stattfinden würde - und zusammen mit Dutzenden anderer Tüten, von denen drei Viertel den Abfall des Hochzeitsfestes enthielten, verbrannt. Die Flammen reckten sich wie rote und gelbe Finger in den Himmel. Der Rauch breitete sich wie ein Baldachin über die angrenzenden Felder und ließ so manchen Schlot von Ardischt husten, denn jeder Rauch ist anders und muss einem erst vertraut werden. Ein Teil der Asche vermischte sich mit der Erde. Den Rest spülte der nächste Regen in den Brod.
    Und das hatte auf dem Zettel gestanden: Ä ndere dich.

    In jener Nacht schlief mein Großvater zum ersten Mal mit seiner Frau. Während er den Akt vollzog, den er bis zur Perfektion geübt hatte, dachte er an das Zigeunermädchen: Er wog noch einmal die Argumente
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