Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ganz oder gar nicht

Ganz oder gar nicht

Titel: Ganz oder gar nicht
Autoren: Alexandra Sellers
Vom Netzwerk:
1. KAPITEL
    Es war geradezu beklemmend still im Raum. Schweigend sahen die drei Männer zu, als der Bankdirektor den Schlüssel drehte und die dicke Stahltür öffnete. Sie tauschten einen kurzen Blick aus, sagten jedoch kein Wort.
    Die drei Männer waren ziemlich jung, so um die dreißig, schätzte der Bankdirektor, aber sie hatten etwas an sich, was er nicht recht definieren konnte. Eine Ausstrahlung, die für dieses Alter ungewöhnlich stark war, ein Selbstbewusstsein, das geradezu hoheitsvoll wirkte. Sie schienen miteinander verwandt zu Hein; besonders im Ausdruck ihrer Augen ähnelten sie sich sehr. Einer von ihnen hatte den Toten, dessen Tresorfach geöffnet werden sollte, als ihren Cousin bezeichnet.
    Der Bankdirektor holte eine lange Schatulle aus glänzendem Metall aus dem Safe. „Seit fünf Jahren wurde dieses Schließfach nicht mehr geöffnet", erklärte er wichtigtuerisch.
    Doch ein solches Vorkommnis war keineswegs ungewöhnlich. Im Laufe des entsetzlichen Krieges von Kaljuk hatten viele Fa milien Angehörige verloren, ohne etwas von deren Bankschließfächern zu ahnen, bis sie von den jeweiligen Banken wegen des Zahlungsrückstandes für die Miete des Safes angeschrieben wurden. Natürlich kam es auch vor, dass die Bank auf ein solches Schreiben keine Antwort erhielt.
    Keiner der drei Männer erwiderte etwas. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen", sagte der Bankdirektor, nahm die Schatulle, führte die Männer zum Ausgang des unterirdischen Saferaums und überließ es einem seiner Angestellten, Safe und Stahltür wieder zu verschließen.
    Der Bankdirektor ging voran durch einen schmalen Gang, an dessen Seiten mehrere kleine Besprechungsräume lagen, in de nen normalerweise seine Kunden Einblick in den Inhalt ihrer Kassetten nahmen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, ging er daran vorbei und die Treppe hinauf zur Schalterhalle, in der emsige Betriebsamkeit herrschte.
    Von dort aus ging er auf eine Tür mit der Aufschrift „Konferenzraum" zu und öffnete sie. „Hier sind Sie ganz ungestört", erklärte er den drei Männern und bedeutete ihnen, einzutreten.
    Der Bankdirektor stellte die Schatulle auf dem glänzend polierten Tisch in der Mitte des Raumes ab und drehte sic h zu den drei Männern um. Immer noch hatte keiner von ihnen etwas gesagt. Sie wirkten äußerlich ganz ruhig. Doch es lag eine merkwürdig angespannte Atmosphäre im Raum, ganz anders als sonst, wenn Hinterbliebene darauf hofften, Reste ihres Familienerbes zu finden," die von den Kriegswirren irgendwie verschont worden waren. Der Bankdirektor fragte sich, was wohl in dieser Schatulle sein mochte.
    „Vielen Dank", sagte einer der drei Männer und hielt ihm mit einem Ausdruck kühler Höflichkeit die Tür auf.
    Zögernd, fast als ob er sich wünschte, bei dem folgenden Drama mitspielen zu dürfen, verbeugte der Bankdirektor sich schließlich und ging hinaus.
    Najib al Makhtoum schloss die Tür hinter ihm. Einen Augenblick lang sahen sich die drei Männer schweigend an. Helles Sonnenlicht fiel durch die Fensterscheiben und ließ die Ähnlichkeit ihrer Gesichtszüge besonders deutlich werden. Alle drei hatten die gleiche hohe Stirn, ausgeprägte Wangenknochen und volle, sinnliche Lippen.
    „Nun, hoffen wir, dass die Kassette das enthält, was wir suchen", sagte Ashraf.
    Wie auf ein Signal setzten sich alle drei gleichzeitig an den Tisch. Einer streckte die Hand aus und hob den Deckel der Kassette. Alle drei stießen einen Seufzer aus.
    „Leer", sagte Ashraf. „Nun ja, man konnte wohl nicht damit rechnen, dass ..."
    „Aber es muss doch ...", begann Haroun und wurde von Najib unterbrochen.
    „Sie ist nicht ganz leer, Ashraf."
    Die anderen beiden hielten unwillkürlich die Luft an. Zwei Briefumschläge lagen am Boden der Kassette, die im Schatten kaum sichtbar waren.
    Einen Moment lang blickten die drei Männer schweigend darauf.
    Schließlich richteten Haroun und Najib den Blick auf Ashraf, und dieser griff zögernd nach dem großen braunen Umschlag von der Art, wie man sie für geschäftliche Korrespondenz verwendet, und dem schmales weißen Kuvert.
    „Es ist ein Testament", stellte Ashraf überrascht nach einem Blick auf den braunen Umschlag fest.
    „Und ein Brief an Großvater." Er legte das weiße Kuvert aus der Hand und brach das Siegel auf, mit dem das Testament versehen war.
    „Welcher Notar hat das Testament aufgesetzt?" fragte Najib. „Doch nicht etwa der alte Ibrahim?"
    Ashraf schüttelte den Kopf. „Jamal al Wakil",
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher