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Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber
Autoren: Der Kuss des Vampirs
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1
    Konklave
    Alle wussten von Miriam Blaylocks Sünden.
    Ihr unverzeihliches Vergehen bestand darin, Menschen als Freunde und Liebhaber zu genießen, statt sie lediglich für ihre Zwecke zu miss- brauchen. Sie konnte sie küssen und es herrlich finden, konnte mit ih- nen Sex haben und hinterher wie eine satte Raubkatze einschlafen. Ihre Artgenossen fanden sie genauso pervers wie einen Menschen, der es mit Schafen trieb.
    Der Umstand, dass dies ein völlig unsinniges Vorurteil war, machte das, was ihr bevorstand, nicht leichter. Sie presste den Rücken an die Sitzbanklehne der Fahrrad-Rikscha und verbarg instinktiv ihr Gesicht nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor den Angehörigen ihrer eigenen Spezies. Das samlorbrauste die nasse Straße entlang, rollte ungestüm durch die zahllosen Wasserpfützen, die der letzte Regen- guss hinterlassen hatte. Aus dem Dunkel der Fahrgast-Kabine starrte sie auf die trüben Dunstschwaden, die von dem Wassergraben aufstie- gen, der die altertümliche thailändische Stadt Chiang Mai umgab. Wie sollte sie diese Aufgabe bewältigen? Wie sollte sie sich verhal- ten, wenn sie ihre Artgenossen traf?
    Einige behaupteten, irgendwo in ihrem Stammbaum müsse es Men- schenblut gegeben haben. Der Gedanke an die Möglichkeit solcher Kreuzungen war natürlich völlig absurd – nichts als dummes Ge- schwätz. Sie verachtete die Engstirnigkeit ihrer Artgenossen und hasste, was in den letzten Jahrhunderten aus ihnen geworden war. Einst waren sie Prinzen gewesen, heute aber hausten sie hinter düste- ren Gemäuern, versteckten sich in der Dunkelheit und begaben sich nur zum Jagen in die Welt der Menschen. Sie kamen mit der heutigen Technologie-Gesellschaft nicht zurecht. Sie wussten um den grenzen- losen Einfallsreichtum des Menschen, doch seine technologischen Er- rungenschaften waren für sie einfach zu komplex geworden.
    Miriam besaß einen gut gehenden Nachtclpub in New York und hatte durchweg menschliches Personal angestellt. Ihre Bankgeschäfte erle- digte sie am heimischen Computer. Auf ihrem Palm-Pilot rief sie die neuesten Aktienkurse ab und verdiente damit an der Börse jede Menge Geld. Sie besaß ein modernes Mobiltelefon, und ihr Auto war

mit einem globalen Positionierungssystem ausgestattet. Sie besaßen nicht einmal Autos. Mit dem Ende des Pferdekarrens hatten sie aufge- hört, im Land umherzufahren. Dasselbe galt für Segelschiffe. Als die Segel abgeschafft wurden, hatte ihresgleichen das Reisen einfach ein- gestellt. Und Flugzeuge – nun, einige wussten vermutlich nicht einmal, dass es dieses Transportmittel überhaupt gab.
    Die anderen Herrscher der Welt waren heute nur traurige Schatten- wesen, die ihr Dasein in düsteren Behausungen fristeten und deren Zahl unfallbedingt stetig abnahm. Sie nannten sich Hüter, aber was bedeutete das heute schon? Die Zeiten, da sie die geheimen Herren der Menschen waren und über sie wachten – wie diese über ihre Schafherden –, gehörten der Vergangenheit an.
    Mit den Hütern ging es rapide bergab, doch sie waren viel zu selbst- gefällig, um es sich einzugestehen. Konklaven wurden alle einhundert Jahre abgehalten, und schon bei den letzten hatte Miriam deutliche Veränderungen bemerkt – Hüter, die sie seit Jahrtausenden gekannt hatte, waren ihrer Mutter und ihrem Vater in den Tod gefolgt; keiner hatte ein Kind gezeugt oder sich wenigstens um einen Partner bemüht. Trotz ihres Niedergangs empfand Miriam Hochachtung vor ihrer Spe- zies. Sie empfand Hochachtung vor sich selbst. Hüter waren Teil der Gerechtigkeit auf Erden und gaben ihr ihre eigentliche Bedeutung. Deswegen war sie hergekommen, und deswegen war sie bereit, die Demütigungen und möglichen Gefahren in Kauf zu nehmen: Sie wollte, dass ihre Spezies überlebte. Sie wollte ein Baby.
    Die letzte der vier Eizellen, die die Natur einem weiblichen Hüter schenkte, würde ihrem Körper in Kürze entschwinden, wenn sie vorher keinen Mann fand, der sie befruchtete. Denn trotz all der Dinge, die sie besaß – Reichtümer, Respekt, Macht und Schönheit –, würde die Be- stimmung ihrer Existenz unerfüllt bleiben. Sie war hergekommen, um ein Kind zu zeugen. Es war ihre letzte Gelegenheit.
    Sie blickte am glänzenden Rücken des samlor-Fahrers vorbei und starrte in die von buntem Neonlicht erhellten Straßen der geschäftigen kleinen Stadt. Wie sehr die Welt sich veränderte. Sie hatte sich aus reiner Vergangenheitsliebe – einer Liebe, die sie mit den übrigen An- gehörigen ihrer
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