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Zum Glück Pauline - Roman

Zum Glück Pauline - Roman

Titel: Zum Glück Pauline - Roman
Autoren: C.H.Beck
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die grausame Wirklichkeit zurückzukehren. Irgendetwas war ihm aufgefallen, so viel stand fest. Ich war bei klarem Verstand, und genau deswegen fürchtete ich den weiteren Lauf der Ereignisse. Seitdem ich das Behandlungszimmer verlassen hatte, waren übrigens auch die Schmerzen wieder da. Die Krämpfe wurden immer heftiger. Ich hatte den Eindruck, dass die Schmerzzone sich ausgebreitet hatte, wie ein Tintenfleck auf einem Blatt Papier. Sie erstreckte sich nun über die gesamte Hüftgegend und ging hinunter bis zum Steißbein.
    Am Ausgang erwartete mich Élise.
    «Na? Du bist ja ganz bleich.»
    «Ich muss morgen noch mal zum Röntgen kommen.»
    «Zum Röntgen?»
    «Na ja, bloß um sicherzugehen.»
    «…»
    Ich glaube, sie machte noch zwei oder drei Bemerkungen, aber ich hörte gar nicht zu. Ich versuchte, mich auf die anstehende Besprechung zu konzentrieren. Doch meine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Gespräch mit dem Arzt zurück. Ich ließ mir noch einmal durch den Kopf gehen, was er ganz am Anfang gesagt hatte. War während des Essens etwas vorgefallen, das mich aus der Bahn geworfen hatte? War irgendein Wort gefallen, ein Satz, hatte sich jemand zu einer Geste hinreißen lassen? Ich dachte an das Geplauder mit Sylvie und Édouard, aber ich sah keinen Zusammenhang mit meinen Schmerzen. Mit denen war ich gerade etwas zu sehr beschäftigt, um mich an die Worte von gestern zu erinnern. Heute Abend, wenn ich Ruhe hatte, würde ich die ganze Unterhaltung aufschreiben. Ich wollte Ermittlungen aufnehmen, methodisch agieren, keine Spur außer Acht lassen, den Weg zurückverfolgen bis zu dem Moment, wo alles angefangen hatte. Bei Schmerzen musste man wie bei einem Verbrechen vorgehen. In unser Schweigen bei der Autofahrt hinein sagte Élise plötzlich:
    «Bist du sauer, weil ich nicht dageblieben bin?»
    «Ach was … überhaupt nicht …»
    «Ich fand das beängstigend, da mit dir zu warten. Ich bin mir vorgekommen wie meine Mutter, die mit meinem Vater immer zur Chemotherapie gefahren ist.»
    «…»
    Ich wunderte mich, dass meine Frau zwischen meinem Zustand und dem Krebs ihres Vaters eine Verbindung sah. Das war ja kein besonders beruhigender Vergleich. Aber ich verstand sie und war erleichtert: Dass sie gegangen war, hing nicht damit zusammen, dass sie irgendwie gefühlskalt war. Wie war ich überhaupt auf den Gedanken gekommen? Élise war die perfekte Frau, die geschickt abwechselnd Mitleid zeigte und dann wieder Optimismus versprühte. Die Vorstellung, dass ich nun zur Arbeit wollte, gefiel ihr zwar nicht, aber ihr war klar, wie wichtig diese Besprechung war. Sie fuhr mich hin. Ich hatte erst ein Taxi nehmen wollen, damit sie nicht noch mehr zu spät kam, aber sie meinte nein. Sie gab einfach ihrer Mitarbeiterin Bescheid. Meine Frau war ihr eigener Chef und konnte sich ihre Zeit frei einteilen. Sie leitete einen Kindergarten. Ihre Kundschaft bestand aus Männern und Frauen, die entzückt waren, wenn sie ihre Sprösslinge am Ende des Tages wiedersahen. Es herrschte eine freundliche Atmosphäre, dem Ernst des Lebens ging eine heile Welt voraus. Élise war glücklich in ihrem Beruf, es gab nur ein Problem: Die Kinder erkannten sie nie. Wenn ihr eins auf der Straße über den Weg lief, starrte es sie an, als hätte es sie noch nie gesehen. Sie sagte oft: «Wirklich schade, dass das Gedächtnis sich nicht früher entwickelt.»
    Kurz vor zehn waren wir da. Rechtzeitig zu meiner Besprechung. Élise legte mir, bevor ich aus dem Auto stieg, die Hand aufs Gesicht und flüsterte: «Alles wird gut.»

4
    Intensität der Schmerzen: 6

Gemütslage: angsterfüllt

5
    Seit über zehn Jahren arbeitete ich für Max-Bacon, ein bedeutendes Architekturbüro. Ich kümmerte mich um die Finanzierung der Projekte, was mich nicht davon abhielt, eine feinfühlige, um nicht zu sagen künstlerische Herangehensweise an die Sache zu entwickeln. Auch wenn mein Job nicht wirklich prickelnd war, hatte ich doch eine Schwäche für das Leben der Abrechnungen und Bilanzen. Mich streifte sogar die Ahnung, dass Zahlen eine sinnliche Seite haben. Ich dichtete den Dingen gern Gefühlswelten an, auch nebensächlichen wie meiner Büroeinrichtung. Zum Beispiel empfand ich so etwas wie Zuneigung zu meinem Schrank, der herzzerreißend quietschen konnte. Ich litt an einer Art Stockholm-Syndrom, das ich auf die Möbel übertrug. So wie manche im Laufe einer Gefangenschaft beginnen, ihren Peiniger ins Herz zu schließen, begann ich, die tote Weltunserer Firma
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