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Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Karsten Flohr
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anderes denkt.«

Fieber
    Täglich machte Adèle einen Spaziergang zur Burgruine. Dies waren die Stunden, in denen sie Hoffnung verspürte. Sie berührte die Bäume, unter denen sie mit Wilhelm gestanden hatte, sie stieg auf die Mauer, auf der sie gemeinsam balanciert waren, sie sah hinunter zum Kanal, an dessen Ufer sie gesessen hatten. All dies erfüllte sie mit der Gewissheit, irgendwann wieder gemeinsam mit ihm hier zu sein – mit ihm und ihrem Kind. Sie hielt es in eine Decke gewickelt im Arm und sprach zu ihm, erzählte ihm alles und rief sich selbst so die Bilder und Erinnerungen ins Gedächtnis, die sie mit Wilhelm verband.
    Helène beobachtete jeden Vormittag vom Fenster aus, wie Adèle das Gut verließ. Sie wusste nicht, wohin sie ging, sie bemerkte nur, dass sie bei ihrer Rückkehr verändert war, sie ging aufrechter, lächelte, manchmal sang sie dem Kind leise etwas vor, manchmal blieb sie stehen, sah zum Fenster hinauf und winkte Helène zu.
    Seit der Geburt des Kindes war das Verhältnis zwischen den beiden Frauen ein anderes geworden. Wenn es ihre Zeit im Lazarett erlaubte, brachte Helène Essen in die kleine Hütte, manchmal erschien Adèle am Abend in der Küche. Sie hatte das Kind dabei und legte es Helène in den Arm.
    Lange hatte Adèle sich nicht für einen Namen entscheiden können. Sie wolle damit – wie auch mit der Taufe des Kindes – warten, bis Wilhelm zurück sei, sagte sie. Doch dann gewöhnte sie sich an, das Mädchen nach ihrer Großmutter Francine zu nennen, und Helène konnte nicht genug davon bekommen, den Namen zärtlich ins Ohr des Kindes zu flüstern, während sie es im Zimmer herumtrug.
    Adèle blieb nie lange, sie fürchtete, von Drewitz könne erneut auftauchen. Helène erklärte ihr immer wieder, dass damit nichtzu rechnen sei, da das Lazarett unter der Hoheit des Roten Kreuzes stünde. Adèle verstand, aber ihre Vorsicht blieb.
    Es war ein warmer Herbstabend. Da nach Einbruch der Dunkelheit keine Verwundeten mehr erwartet wurden, war im Haus ein wenig Ruhe eingekehrt. Helène hatte sich in den Salon zurückgezogen und war gerade in ihrem Ohrensessel eingeschlafen, als es zaghaft an der Tür klopfte.
    »Mmmh?«, murmelte sie. Die Tür wurde geöffnet, Dr. Antosch trat ein. »Gnädige Frau, ich bin untröstlich, Sie zu stören, aber eine der neuen Krankenschwestern, die heute eingetroffen sind, sagt, sie müsse Sie unbedingt sprechen. Es dulde keinen Aufschub.«
    »Na, wenn es so ist«, sagte Helène und erhob sich seufzend, um dann vor Verblüffung sofort wieder in den Sessel zurückzufallen, als die Schwester den Raum betrat.
    *
    Adèle fand keinen Schlaf: Das Kind war unruhig, sein Weinen weckte sie immer wieder auf. Schließlich kleidete sie sich an, nahm Francine aus ihrem Körbchen und setzte sich mit ihr in den Sessel am Fenster der Dachkammer. Francine beruhigte sich ein wenig, doch immer wieder krümmte sich der kleine Körper zusammen, als würde er von Schmerzen gequält.
    Seit drei Tagen erfüllte das Verhalten des Kindes Adèle mit Sorge, seine Appetit- und Ruhelosigkeit beunruhigten sie. Jetzt erhob sie sich und stieg mit Francine im Arm vorsichtig die steile Treppe hinunter. In der Küche blieb sie vor dem Tisch am Fenster stehen und sah hinaus. Der Mond überzog die Weinstöcke mit weißem Licht, der Baum vor dem Haus warf einen langen Schatten auf den Steinboden der Küche – genau auf die Stelle, wo sie so oft mit Wilhelm gestanden hatte. Adèle konnte ihn spüren, seine Arme, die er um ihre Taille legte, seinen Atem, der ihren Nacken kitzelte. Sie drückte Francine an sich und küsste sie. Der kalte Schweiß auf der Stirn des Kindes riss sie aus ihren Gefühlen. Das Kind schien förmlich zu glühen. Adèle wickelte noch eine weitere Decke um Francine und ging dann rasch hinüber zum Gutshaus.
    Charlotte schloss zur selben Zeit leise die Tür zum Salon hinter sich und verharrte eine Weile reglos davor: Die unvermutete Begegnung mit Helène hatte sie aufgewühlt. Als sie das neue Lazarett nach einer anstrengenden Reise durch zerstörte Städte und Dörfer am Abend erreicht hatte, wusste sie zunächst nicht, wo genau sie sich befand, der Name des Ortes sagte ihr nichts. Umso verblüffter war sie, als Dr. Antosch beim Rundgang durch die Räume den Namen der Besitzerin des Anwesens erwähnt hatte. Charlotte bat so hartnäckig darum, umgehend zu Helène vorgelassen zu werden, dass der Arzt sich schließlich ein Herz gefasst und trotz der späten Stunde an der
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