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Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Titel: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
Autoren: Jean Vanier , Philippe Pozzo di Borgo , de Laurent Cherisey
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DIE HÖLLE SIND DIE ANDEREN? DAS IST BULLSHIT!
     
    Philippe Pozzo di Borgo und Elisabeth von Thadden im Gespräch über die Brüderlichkeit, einen besonderen Großvater und die Angst unserer hochbeschleunigten Gesellschaft, der Schwäche ins Gesicht zu sehen.
     
     
    Elisabeth von Thadden : Haben Sie wahrgenommen, wie die Menschen gestern an ihren Fenstern standen, um Sie zu sehen?
     
    Philippe Pozzo di Borgo : Vielleicht war es ein Altersheim, an dem wir vorbeigefahren sind?
     
    EvT : Keineswegs. Es waren die Leute, die mitten im Leben stehen, wie man so sagt. Die Leute scheinen auf Sie zu warten, oder? Wie hat sich durch den Film Ihr Alltag verändert?
     
    PdB : Wirklich bequem ist er nicht geworden, zugegeben. Vor allem aber bekomme ich, seitdem die Mail-Adresse in meinem Buch Intouchables, Ziemlich beste Freunde, stand, Abertausende von Mails, in allerhand Sprachen, die man mit Google-Übersetzungen höchstens annäherungsweise verstehen kann, und also verbringe ich seit einem Jahr täglich fünf bis sechs Stunden damit, diese Post zu verstehen und zu beantworten. Die Lektüre ist schmerzhaft. Was für ein Elend sich in diesen Briefen zeigt! Alles Unglück der Welt landet plötzlich auf meinem Bildschirm. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich bin kein Weiser, ich bin nicht religiös. Die Unermesslichkeit der Verzweiflung, die mich erreicht, hat mich überwältigt.
     
    EvT : Aber Sie antworten jedem?
     
    PdB : Was sonst? Anders geht es nicht.
     
    EvT : Welches Bild unserer Gesellschaft tritt Ihnen aus diesen Mails entgegen?
     
    PdB : Es klafft ein Abgrund zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und dem, was sich in den Menschen zuträgt. Sie fühlen sich abgehängt, ausgeschieden, zerstört, beladen, gejagt, sie sind voller Scham und Angst, weil sie nicht leisten können, was man von ihnen verlangt, als Arbeitnehmer, als Familienväter, als Migranten oder Arbeitslose, es sind alle Lebenssituationen dabei, ob mit körperlicher Behinderung oder nicht. Wir haben eben alle ein Handicap, sei es nun körperlich, seelisch oder sozial. Übrigens wenden sich auch viele Tetraplegiker an mich, die gelähmt sind, weil sie sich aus dem Fenster gestürzt haben, und nun schreiben sie: »Ich hab’s nicht hingekriegt, auch das nicht.« All diese Mails belegen ein massenhaftes Gefühl des Scheiterns. Auch deshalb würde ich mein erstes Buch nicht ausgerechnet als Erfolg bezeichnen. Wir sind als Gesellschaft in einer Sackgasse gelandet.
     
    EvT : Ihr jüngstes Manifest Ziemlich verletzlich, ziemlich stark, das jetzt erscheint, will nun bei diesem Scheitern nicht stehenbleiben. Aus Zweckoptimismus?
     
    PdB : Nein, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass man es besser machen kann. Es liegt ein Wunsch nach Veränderung in der Luft. Die Depression war lange allgegenwärtig. Aber man kann die Natur des Menschen und die Anforderungen der westlichen Wohlstandsgesellschaften besser in Einklang bringen. Die Menschen wollen ein sinnvolles Leben führen, sie wollen sich nicht fortgesetzt drängen und hetzen lassen. Jeder weiß oder ahnt doch zumindest, dass die menschliche Existenz zerbrechlich ist. Man glaubt nicht mehr an das Trugbild des ewig jungen und starken schönen Menschen. Die Zerbrechlichkeit muss wieder von den Rändern ins Zentrum der Gesellschaft rücken, wie es etwa die Organisation Simon de Cyrène an vielen Orten tut, für die ich auch arbeite. In Paris, mitten in der Stadt, hat das neue Zentrum für Schädelverletzungen einfach seine Türen geöffnet, und diese Kranken können einen wirklich tief erschrecken. Erst kam kaum einer, inzwischen herrscht reger Besuch, die Leute kommen auf einen Kaffee, eine Mahlzeit. Die Angst vor der eigenen Zerbrechlichkeit ist groß, aber das muss nicht so bleiben, wenn wir das Risiko eingehen, uns füreinander zu öffnen. Nicht aus Mitleid. Aus Respekt und Interesse.
     
    EvT : Im Mittelpunkt des neuen Buchs steht das Wort Brüderlichkeit. Sie sagen, in der Brüderlichkeit liege der einzige Weg, einen tieferen Sinn des Lebens zu finden.
     
    PdB : Unser gegenwärtiges Gesellschaftssystem beruht auf der Befriedigung aller individuellen Bedürfnisse. Das ist ein System ohne Sinn und Verstand. Das kapitalistische Wirtschaftssystem will die egoistische Befriedigung optimieren und behauptet, erst dann sei man glücklich – was für ein Unfug. Dieser Polysensualismus, der jeden Wunsch befriedigen will, ist schlicht verrückt. Mit Glück hat das nichts zu tun. Das System ist
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