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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug
Autoren: James Kahn
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niemand den Blick von der Tür ab. Jack stand auf und ging auf das Gewehr zu.
    »Vater …«, sagte Dicey. Und da geschah es.
    Die ganze Tür stürzte ins Zimmer, aus Schloss und Scharnieren gerissen; drei Wesen stürmten herein, kreischend und brüllend. Das erste war ein Greif – Leib eines Löwen, Kopf und Schwingen eines Riesenadlers. Er kreischte irr. Er warf sich, halb im Flug, halb im Sturz, sofort auf Jack – bevor dieser das Gewehr auch nur hochheben konnte und riss ihm den Bauch mit seinen Rasiermesserkrallen auf, kreischte wieder in seinem Triumph. Greife hassten schon den Geruch von Menschen.
    Hinter dem Greif kam ein Wesen, so missgestaltet und verkommen, dass es nicht einmal einen Namen hatte und auch nie einen bekommen würde. Das schuppige Gesicht besaß ein Auge am falschen Platz, keine Nase und einen Mund, der die dicke Zunge nicht zu bergen vermochte. Sie hing wie ein Stück Fleisch am Kinn herunter und troff vor stinkendem Flüssigen. Sein Geschlecht hing heraus. Es hasste alles Lebende.
    Während der Greif Jack tötete, zerschmetterte das andere Etwas den Kopf des Vaters mit einem einzigen Hieb. Es schickte sich an, die Mutter, die dem Wahnsinn nahe war, zu schänden, als plötzlich das dritte Wesen hereinkam und mit den Fingern schnalzte. Das Etwas drehte sich kurz herum, fauchte, hielt inne und tötete die Mutter nur. Dann packte es die beiden Kinder, Dicey und Ollie, mit den mächtigen Armen und trug sie in die Nacht hinaus. Der Greif riss der alten Großmutter blitzschnell das Herz aus dem Leib, kreischte und flog davon.
    Das dritte Wesen stand immer noch unter der Tür und betrachtete das Blutbad. Drei Tote, einer ausgeweidet und im Sterben, zwei entführt. Er lächelte. Er war hochgewachsen, auf schmalgliedrige, düstere Art gutaussehend. Sein Haar war schwarz, über die Unterlippe ragten lange weiße Fangzähne. Zwei riesige braunschwarze Lederflügel mit dünnen Zwischenrippen umschlossen seinen dürren Körper völlig. Er war ein Vampir.
    Er trat zu der Toten, kniete nieder und schlug die Zähne in ihren Hals. Er war rasch fertig. Danach leckte er sich die Lippen, leckte noch einmal über ihren Hals, leckte ein letztes Mal die Lippen und verließ die Hütte.
    Als er ein paar Meter weit gegangen war und den Vorbau des Eingangs hinter sich hatte, spreizte er die Hautflügel und flog.

 

     
Kapitel 1
     
    Worin die Geschichte ihren
    Anfang nimmt
     
    E s war ein klarer, heller Tag. Der Himmel spannte sich leuchtend, wolkenlos blau bis hin zum Horizont im Westen. Obwohl die Luft noch kühl war, zeigten sich überall Frühlingsanzeichen: Ein V aus Wildenten tauchte oben auf; der Pfeil ihrer Formation wies wie ein Kollektivgedanke auf ihr Ziel; der Bach, der über den Cachagua-Pass strömte, war jetzt ein Fluss; Obstbäume wiesen Knospen vor.
    Am Rand des Obstgartens rauften zwei Sperlinge um ein Samenkorn und huschten auf einen hohen Zweig, als zwei Leute herankamen. Joshua und Rose betraten langsam die Lichtung.
    Joshua war ein gutaussehender Mann von siebenundzwanzig Sommern. Markante, wettergegerbte Züge wurden gemildert durch ruhige, blaugrüne Augen; eine schwach gebogene Nase führte zu einem straffen, geraden Mund hinab. Er hatte den Körper eines Menschen, der sich viel in der freien Natur aufhält: sehnig, kein Fett – und trotzdem war auch etwas Weiches oder Zartes daran. Seine ganze Haltung, ja, sein Wesen deutete auf Gegensätze, also auf Vielschichtigkeit und damit auf Tiefgründigkeit hin. Er war auch ein stiller Mensch.
    Seine schwarzen Haare hingen in Locken auf die Schultern hinunter. Oft trug er sie aber auch – vor allem auf der Jagd – zum Pferdeschwanz gebunden, mit einer Lederschlaufe. Seine Brust war nackt, seine lange Hose aus weichem, abgetragenem Leder. Er hatte hohe Rohlederstiefel an. An seinem reichbestickten Gürtel hingen zwei Wurfmesser; im linken Stiefel steckte ein drittes für den Nahkampf.
    Und im rechten Stiefel befand sich schließlich ein Federkiel: Er war nicht nur Jäger, sondern auch Schreiber.
    Rose, die Frau, die ihn begleitete, war seine Freundin und die Frau seines besten Freundes. Ihre unkomplizierte Hübschheit vom südlichen Typ trug sie mit großer Natürlichkeit zur Schau, weder als Last noch als Herausforderung. Ihre Anmut schien der Erde zu entstammen, und da jetzt die Erde lebendig wurde, erblühte auch Rose.
    Ihr langes schwarzes Haar reichte über ihrem lincolngrünen Hemdkleid bis zu den Hüften. In ihre Locken waren als
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