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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug
Autoren: James Kahn
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Kopfschmuck zwei herrliche Federn eingeflochten, Flügelfedern eines Falkenpaares aus ihrer Kindheit. Sie hatte die Falken freigelassen, als ihr klar wurde, dass es besser war, Falke zu sein als Falkner; die Federn bewahrte sie zur Erinnerung an diese Wahrheit auf.
    Joshua hatte die vergangene Nacht auf dem Heimweg von einem zweitägigen, mäßig erfolgreichen Jagdausflug in ihrer Scheune geschlafen.
    »Ich lasse euch den Hasen und nehme das Erdhörnchen«, sagte er zu ihr, als sie am Ende des Obstgartens standen. Ein Erdhörnchen und ein Hase waren damals gute Jagdbeute; Wälder und Felder waren leergejagt. Das Wild hatte sich größtenteils nach Norden zurückgezogen, und Joshua musste immer größere Strecken zurücklegen, um überhaupt noch etwas zu finden.
    Rose wusste, dass es Entbehrung brachte, die magere Beute zu teilen, aber sie waren Freunde. Ein Geschenk war nicht so leicht abzulehnen. So erbot sie sich, dafür in seinen Augen zu lesen; sie war Seherin und bei manchen auch Heilerin.
    Sie veranlasste ihn, sich auf einen großen Steinblock am Ende des Hains zu setzen und den Blick auf einen Punkt unten am Hügel zu richten, hinweg über das ganze wellige Grasland, über den gewundenen Bach und das dichte Dorngestrüpp, bis hin auf einen hundert Meter entfernten gezackten Felsen, damit seine Augen sich nicht bewegten. Sie starrte dann angespannt in seine hellblaue linke Iris.
    »Wann habe ich zum letzten Mal in dir gelesen?« fragte sie, während sie das Pigment seines Auges prüfend ansah.
    »Vor einem Jahr vielleicht«, sagte Joshua achselzuckend.
    »Das ist zu lange. Du hast hier viele Veränderungen. Da ist vieles, das beim letzten Mal noch nicht da war.«
    Er schob die Unterlippe vor. Irgendein Vogel flog durch sein Blickfeld, aber er zwang sich, nicht hinzusehen, obwohl das ein Omen sein mochte.
    »Du hast in der letzten Zeit etwas verloren, etwas Wichtiges«, sagte Rose. »Aber du wirst es wieder finden.« Sie rückte mit dem Gesicht für einen Augenblick näher heran und wich wieder zurück. »Was hast du verloren?« fragte sie.
    »Ich weiß nichts.« Er spannte die Stirnhaut.
    Sie ging auf seine Reaktion nicht ein.
    »Ich sehe eine lange Jagd kommen«, fuhr sie fort. Sie runzelte die Stirn. »Du wirst beinahe sterben, und dann …« Sie blickte nun tief hinein, durch die Iris, durch die Linse ins Dunkle seines Auges. »Und dann … und dann … wirst du sterben.« Ihr Gesicht verkrampfte sich; ihr Blick glitt durch seine dichtgedrängte Zukunft. »Du wirst durch Wasser sterben«, sagte sie. »Du wirst ertrinken. Aber dann – ich kann nicht erkennen, wie, doch es ist ganz deutlich – wirst du wieder leben!« Sie richtete sich auf. Er sah sie fragend an. Sie schüttelte den Kopf. »Tiefer kann ich nicht dringen.«
    Das Laub wisperte Geheimnisse in den Bäumen, als kühler Wind es kurz bauschte und dann wieder erstarb. Joshua zweifelte nicht an dem, was Rose sagte; er hatte noch nie erlebt, dass sie sich bei ihm geirrt hätte. Es war aber eine seltsame Deutung, seltsam und beunruhigend, ganz anders als sonst. Joshua vermochte den Sinn nicht zu ergründen.
    »Was soll ich tun?« fragte er.
    Sie sah ihn verwirrt an.
    »Lass dir ein paar Kräuter geben, die ich im Keller habe. Sie besitzen Heilkräfte, die auf einer langen Jagd von Nutzen sein können. Nimm sie, wenn du müde wirst.«
    Er nickte zustimmend. Er bewunderte ihr Wissen. Er selbst konnte natürlich lesen und schreiben, und es gab solche, die das als mächtigen Zauber verstanden, sogar als schwarze Magie. Aber die Medizin von Rose war rein und gut und so wirksam wie nur etwas.
    Der Tag begann heiß zu werden. Eine dicke Schmeißfliege summte heran und setzte sich auf die Schnauze von Joshs totem Erdhörnchen. Er scheuchte das Insekt weg und sah Rose an.
    »Nimm das Erdhörnchen auch«, sagte er. Sie sollte mehr haben als das magere Kaninchen für ihre kleine Familie.
    »Das musst du nicht tun, Josh«, erwiderte Rose aufrichtig. »Wir haben noch viel Obst eingelagert.«
    Er zuckte die Achseln, um zu zeigen, das sei schon recht, er wolle ihnen das Tier überlassen. Sie lächelte zur Antwort, ja, sie nähmen es gern. Er griff hinauf zu einem herabhängenden Zweig und betastete eine kleine, harte Knospe.
    »Freust du dich auf Dicey?« fragte sie. Dicey, seine junge Liebste, seine angebetete Kusine, seine neue Braut.
    Er lächelte, weil er wusste, dass Rose in den vergangenen zehn Nächten selbst allein gelegen hatte.
    »Wo ist denn dein Mann?«
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