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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug
Autoren: James Kahn
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dass etwas nicht in Ordnung war; kein Laut, keine Bewegung. Kein Ollie, der spielte, kein Gesang von Mutter. Er sank auf ein Knie und lauschte. Nur eine Spottdrossel, spottend.
    Joshua legte sein letztes Erdhörnchen auf den Boden und zog das Messer aus dem Gürtel. Er wartete. Immer noch nichts. Er lief lautlos zwischen den Bäumen zur Vorderseite des Hauses und versuchte durch die Westfenster hineinzusehen.
    Er sah, dass es keine Tür mehr gab. Als er hineinblickte ins große Wohnzimmer, verkrampfte sich alles in ihm.
    Er rannte ins Haus, das Messer in der Hand, und schaute sich verzweifelt um. Tot, alle tot. Er sog ächzend die Luft in sich hinein, versuchte zu fassen, was er sah. Mutter, Vater, Großmutter, Jack. Alle grauenhaft verunstaltet, unwiderruflich tot. Er kniete vor seiner Mutter nieder, die Augen voller Tränen. Er hielt ihre Hand. Kalt, starr.
    In der Ecke ein Laut, und Joshua fuhr herum, das Messer erhoben, all seine Wut und Trauer in die Stahlklinge übertragend, blitzartig. Aber es war Jack, der sich bewegte, noch nicht völlig ohne Leben. Josh stürzte zu dem alten Mann und stützte seinen Kopf.
    »Onkel Jack, was ist geschehen?« Er wollte mehr fragen, aber seine Stimme versagte den Dienst, seine Kehle war wie zugeschnürt und so trocken, wie seine Augen nass waren.
    Jack blickte zu ihm auf.
    »Joshua, bist du’s, Junge? Ich sterbe, Junge. Der Himmel sei mir gnädig.«
    Joshua schüttelte ihn leicht.
    »Jack, wer hat das getan?«
    Jacks Augen wurden ein wenig klarer.
    »Zwei Monster und ein Blutsauger, Junge. Ich hab’s versucht, ich hab’s versucht …«
    »Was ist mit Dicey und Ollie?« wimmerte Josh. »Was ist mit Dicey?« flehte er.
    »Sind weggebracht worden«, wisperte der alte Mann. »Ich bin tot, Junge.«
    »Wie sahen sie aus?« drängte Joshua. Seine Verzweiflung schmiedete Leid schon in Hass um.
    Jacks Stimme bewegte kaum die Luft. Joshua musste das Ohr an seinen Mund senken.
    »Einer war ein Löwen-Falke, einer ein Blutsauger. Und ein grässlich Ding, dem kein Mensch je einen Namen geben sollte. Dank dem Himmel, dass ich sterbe und nie mehr sein Gesicht sehen muss.« Dann schloss er die Augen und starb.
    Joshua lief durch die Hütte, suchte nach etwas, irgend etwas. Er wollte stürmen, kämpfen; einen Augenblick lang glaubte er den Verstand zu verlieren. Er packte einen Stuhl und zerschlug ihn am Boden; er gab der Wand Tritte mit aller Kraft. Dann fiel ihm ein, dass er zu Rose gesagt hatte, ihm fehle Onkel Jack nicht. Er setzte sich auf den kleinen Teppich und weinte und weinte.
     
    Als er sie begraben hatte, setzte er sich an den Tisch im Wohnraum und starrte in den kalten Kamin. Er fühlte sich leer, aber auf irgendeine Weise gereinigt; zielbewusst. Sein Leben bis zu diesem Augenblick war vorbei, das neue hatte begonnen.
    Er zog den Federkiel aus dem Stiefel und tauchte ihn in das Büchschen Tinte, die er aus Asche, Trockenblut und Wasser angerührt hatte. Auf das dünne, handgepreßte Papier vor sich schrieb er langsam und methodisch:
     
    Hier liegt die Familie Green: die alte Esther, die Söhne Jack und Bob, und Bobs Frau Ellen. Sie waren Menschen. Brutal und ohne Anlass ermordet von einem Greif, einem Vampir und einem Unglücksfall, wie vom toten Jack beschworen. Jacks Tochter Dicey und Bobs Sohn Ollie von selbigen entführt. Der überlebende Sohn Joshua, Jäger und Schreiber, zeichnet dies am heutigen 14. März Nach dem Eis 121 auf und beansprucht Rache-Recht.
     
    Joshua Green
    Jäger und Schreiber
     
    Er steckte den Federkiel wieder in den Stiefel. Dann rollte er das Pergament zu einem engen Zylinder zusammen und schob ihn in ein dünnes Rohr aus rostfreiem Stahl, das er an beiden Enden versiegelte. Er hatte unter dem Bett einen ganzen Kasten von diesen Röhrchen – Schreiber-Röhrchen – stehen. Er nahm noch zwei leere heraus und band an jedem Unterschenkel eines fest. Schließlich schrieb er denselben Text auf ein kleineres Stück Papier und verbarg es an seinem Gürtel.
    Er ging wieder hinaus und grub ein letztes Loch zwischen den vier Gräbern, die er eben ausgehoben hatte. Der Tag dunkelte, und er war müde. Er verspürte plötzlich einen überwältigenden Drang, zu schlafen. Bald würde er sich von dieser Prüfung ausruhen.
    Als sein Loch sechzig Zentimeter tief war, ließ er das Röhrchen hineinfallen und schaufelte es zu. Er musste aber unterbrechen, als ihn wieder eine Welle überflutete, ein lastendes, physisches Schlafbedürfnis von einer Heftigkeit, die
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