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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug
Autoren: James Kahn
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fragte er.
    Sie lachte.
    »Muss jeden Augenblick zurückkommen. Die Zusammenkunft der Saatgutverkäufer in Newport war gestern früh vorbei.« Aber sie wollte sich nicht necken lassen. »Du vermisst Dicey ganz bestimmt«, setzte sie mit einem listigen und doch unschuldigen Augenzwinkern hinzu.
    Joshua nickte trocken und gab es zu.
    »Aber nicht ihren Papa«, sagte er. »Den könnte ich viel seltener sehen und würde ihn trotzdem nicht vermissen.«
    »Tz, tz«, machte Rose tadelnd, »und du willst einer sein, dem die Familie etwas bedeutet.« Sie gab ihm spielerisch einen Klaps. Er senkte in gespielter Ergebenheit den Kopf.
    Sie trat ein paar Schritte in den Obstgarten, hob eine kleine Nuss vom Boden auf und versuchte sie an einem Baum zu knacken. Es ging nicht. Josh wollte sie ihr wegnehmen, aber sie versteckte sie am Rücken und kicherte. Er sah sie nur an und schüttelte den Kopf. Jedes Mal, wenn sie keine weise Frau war, war sie das kleine Mädchen.
    Sie gingen zwischen zwei geraden Reihen junger Birnbäume auf friedlich-stillem Weg dahin. Die Sonne schien zwischen dem dünnen Laub hindurch. Das Licht fiel in verschwommenen Flecken auf den Boden, wo es die verdorrten Blumen, abgebrochenen Zweige, Flügeldecken von Baumgrillen und Klee sprenkelte. Die ganze Welt war in diesem Augenblick heiter-friedlich.
    In der Feme hüpften zwei Wildpferde, die zu weit weg waren, als dass man sie hätte hören können, ganz verspielt herum. Sie verschwanden über dem fernen Hügel, der mit der lehmigen Seite dahinter zum Meer abfiel.
    »Sie scheinen verliebt zu sein«, meinte Rose.
    Dann schwiegen sie wieder, während ihre Gedanken zu den eigenen Lieben wanderten.
    Rose verließ den Obstgarten und zog im Gehen das Hirschmesser, um die Nuss in ihrer Hand aufzubrechen.
    Joshua folgte ihr. Die Sperlinge in den oberen Zweigen kamen zu dem Schluss, dass sie doch nicht wieder zu den Samenkörnern kommen konnten, und flogen davon. Rose knackte die Nuss und gab die Hälfte des Inneren Joshua. Sie kauten versonnen und fühlten sich eng verbunden.
    »Verliebt«, sagte Josh nachdenklich, Roses letztes Wort wiederholend.
    »Liebe ist die Schwerkraft der Seele«, meinte sie lächelnd.
    »Du meinst, egal, wie hoch sie fliegt, sie kommt immer wieder herunter?« neckte er. »Oder meinst du, sie zieht Äpfel vom Baum des Lebens und haut dir auf den Kopf, bis du Sterne siehst?«
    Sie warf mit gespielter Empörung eine Blume nach ihm.
    »Ich meine, sie zieht Seelen zueinander.«
    »Ahh.« Er machte eine Verbeugung. »Wie himmlische Körper.«
    Sie wurde rot. Sie war vor dem Krieg der Rassen – und sogar während dieser Zeit – Joshuas Liebste gewesen. Die Zeit barg viele schöne Erinnerungen für sie, aber durch stillschweigende Übereinkunft sprachen sie nie davon. Nicht seit Roses Heirat.
    Sie griff nach seiner Hand und drückte sie.
    »Du bist mir lieb, weißt du. Beide seid ihr es. Manchmal kommt es mir vor, als wären wir drei kreisende Planeten auf der Suche nach einer Sonne …«
    Er schüttelte lächelnd den Kopf.
    »Du hörst dich an wie ein altes Buch.«
    »Und du wie eins mit losen Blättern, in dem Seiten fehlen«, sagte sie lachend und schob ihn weg. Sie hielten einander kurz mit dem Blick fest, dann lösten sie sich voneinander. In der nachfolgenden Stille blieb vieles ungesagt. Josh wusste, dass er sie immer lieben würde – als eine Schwester, eine Vertraute und als jemand, der so eng verbunden war wie er mit seinem zweiten besten Freund, ihrem Mann. Rose ihrerseits war ihrem Schicksal dankbar, zwei wie sie zu lieben und von ihnen geliebt zu werden. Die Welt war strahlend an diesem Tag.
    »Ich muss bald gehen«, sagte Joshua schließlich leise, mit einem Blick auf die Sonne. »Mutter wird ärgerlich, wenn ich so lange ausbleibe.«
    Plötzlich war auf der Straße hinter den Bäumen Hufschlag zu hören. Sie hörten das Galoppieren beide gleichzeitig. Roses Gesicht leuchtete auf wie Sommerfeuer.
    »Das wird er sein.« Sie grinste mit unverhohlener Erleichterung und lief den Weg hinunter, der zur Hauptstraße führte. Auch Josh lächelte glücklich. Er hatte den vertrauten Gang seines alten Freundes erkannt. Sie würden gemeinsam einen Willkommensbecher leeren.
    Joshua verließ die Bäume, ging am Rand des Obstgartens zur Straße hinunter und sah Rose hinablaufen, ihrem zurückkehrenden Liebsten entgegen.
    »Beauty!« rief sie ihm zu. »Beauty!«
    Er kam im leichten Galopp auf sie zu, fünfzig Meter vor Joshua. Bis sie einander
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