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Im finsteren Wald

Im finsteren Wald

Titel: Im finsteren Wald
Autoren: Heiko Grießbach
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    1
    1975
    „Aahrg!“
    Otto schrie! Er schrie, wie er noch nie in seinem Leben geschrien hatte, vielleicht riss ihn das aus dem grässlichen Alptraum heraus. Er wollte aufwachen!
    Doch Otto glaubte nicht an einen Traum, er wusste instinktiv, dass er nicht im Bett lag und träumte. In ihm keimte die Gewissheit, mit dem dreißigsten Geburtstag im vorigen Jahr seinen letzten gefeiert zu haben.
    Er strampelte mit den Beinen, doch das verstärkte die schier unerträglichen Schmerzen nur noch. Panisch schaute er an seinem nackten Körper hinab, sah die furchtbare Wunde, aus der das Blut sprudelte. Sein Blut! Wieso war er hier? Wo befand er sich überhaupt und warum hing er hier? Nackt und verletzt? Was war denn nur geschehen?
    Mühsam zwang er sich zur Ruhe und versuchte, sich wenig zu bewegen. Zum Einen verminderte es die Schmerzen und zum Anderen wollte er die Wunde nicht weiter aufreißen lassen – und er musste nachdenken! Er musste einen Ausweg aus dieser grauenhaften Lage und einen Weg zur Rettung finden. Aber dazu musste er wissen, wie er überhaupt in diese Lage geraten und was geschehen war. Krampfhaft versuchte er, sich zu erinnern.
    Da war die Feier gewesen, damit hatte alles angefangen. Viele Leute, gute Laune, essen und trinken, langsam lichtete sich der Nebel in seinem Hirn. Otto verfluchte sich und die verdammte Schnapsidee, die im wahrsten Sinne des Wortes im Alkoholrausch geboren wurde und die allem Anschein nach schuld an seiner jetzigen Notlage war. Dabei fing die Feier so gut an. Zum fünfundzwanzigsten Geburtstag der DDR veranstaltete die Dorfgemeinde von Craula ein großes Fest. Es gab jedes Jahr zum Geburtstag ein Fest, doch zu diesem runden Jubiläum sollte es ein besonderes werden, ein Ereignis, an das sich die Leute noch jahrelang erinnerten. Craula war ein kleines Dorf, mit kleinem Budget, doch die meisten Bewohner gaben von ihrem Ersparten ein paar Mark für die Veranstaltung dazu. Musik spielte vom Band und eine Thüringer Rockgruppe, deren Namen noch nie jemand aus Craula gehört hatte, spielte Livemusik.
    Stände mit Steaks und Bratwürsten wurden umlagert und die neuen Traktoren für die LPG standen glänzend auf der Festwiese und konnten bewundert werden. Kinder durften in ihnen Probe sitzen und mit ihren dünnen Ärmchen die großen Lenkräder umfassen, mit Kreide auf der Straße malen oder tobten ausgelassen herum. Überall im Dorf wehten DDR-Fahnen im leichten Wind und die Sonne läutete einen der letzten sonnigen, aber bereits kalten Herbsttage ein und schien auch gratulieren zu wollen, ehe sie sich in den Winterurlaub verabschiedete.
    Er hatte Simone abgeholt, sie hatten sich die Trecker angeschaut und die Feuerwehrvorführung und dabei ein gegrilltes Steak im Brötchen gegessen. Sie flirtete mit ihm und Otto rechnete sich gute Chancen aus, die Nacht nicht allein in seinem gemieteten Zimmer bei den Hubers verbringen zu müssen. Wenn er an Simones schlanke Figur dachte und an den knackigen Hintern, wurde ihm ganz anders. Er war frei wie ein Vogel, doch dieses Mädel mit den blonden, langen Haaren könnte es schaffen, sein Junggesellendasein zu beenden.
    Abends dann im Festzelt flossen reichlich Bier und Korn, die Stimmung war super. Die Rockband war verschwunden, doch die Musik, die jetzt aus den Boxen dröhnte, kannte jeder und sie machte Laune. Wer nicht tanzte, wippte den Takt mit. Simone saß neben ihm und hatte ihre Hand auf seinem Schenkel. Mit bereits träger, ungehorsamer Zunge erzählte er, wie er am Waldrand einen Fasan gesehen und verfolgt hatte, ein großes und prächtiges Tier.
    Das Lachen am Tisch wurde lauter. Fasane gäbe es keine mehr in freier Wildbahn, widersprachen alle und Jenner, der Schwätzer, der alles anzweifelte, lachte am lautesten, lachte ihn aus und meinte, sicher hätte er nur einen Buntspecht oder so gesehen. Einen Specht! Jedes Kind erkannte einen Specht und ein Fasan war mindestens doppelt so groß. Der Kerl hatte keine Ahnung und er, Otto, hatte mit ihm gewettet, den Vogel zu jagen. Er würde ihn erlegen und seinen Balg Jenner vor die Füße werfen!
    Zwei Tage später zog er mürrisch seine dicke, fellgefütterte Jacke an, der Oktober begann in diesem Jahr mächtig kalt und die Temperatur sank täglich um etliche Grad. Frühmorgens glitzerte das Gras voller Tautropfen. Wenn es so weiterging, gab es bald den ersten Frost. Ein Grund mehr für Otto, sein Versprechen schnell zu erfüllen. Er machte sich auf in den Wald, den verdammten Fasan zu
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