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Wohin der Wind uns trägt

Wohin der Wind uns trägt

Titel: Wohin der Wind uns trägt
Autoren: Anne McCullagh Rennie
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eine gute Schulbildung erhalten – etwas, das Charlie selbst verwehrt geblieben war. Rick erfüllte all seine Erwartungen, und seine Liebe zu den Rennpferden war nicht zu übersehen. Von plötzlicher Rührung ergriffen, nahm Charlie ein malvenfarbenes, seidenes Taschentuch heraus, putzte sich die Nase damit und steckte es wieder weg.
    Auch Jo hatte sich heute Morgen als erstaunlich tüchtig im Umgang mit Magic Belle erwiesen. Obwohl das Pferd als Fohlen nicht sehr ansehnlich gewesen war, hatte Charlie es wegen seines beeindruckenden Stammbaums und aus dem instinktiven Gefühl heraus gekauft, dass es sich gewiss prächtig entwickeln würde. In den letzten sechs Wochen hatte sich Bella unter Jos Anleitung bei der langsamen Bahnarbeit wacker geschlagen. Inzwischen waren Mädchen und Pferd ein Herz und eine Seele, und Charlie konnte nicht leugnen, dass seine Tochter Talent hatte. Wenn sie doch nur ein Junge wäre! Sie würde sicher mit der Zeit zur Vernunft kommen. Nach dem Mannequinkurs, in den Nina sie unbedingt stecken wollte, würde sie bald einen netten Mann, einen Arzt, Tierarzt oder Anwalt, kennenlernen, heiraten und ihren Gatten in Kanzlei oder Praxis unterstützen.
    »Jo reitet Magic Belle. Wenn sie kommt, nimm das Pferd mit zur Dreiviertelmeilen-Markierung und lass es die letzten beiden Runden bis zum Stall galoppieren«, meinte Charlie zu Archie. »Wo bleibt denn das Mädchen?«
    Er hob sein Fernglas und ließ den Blick über die dunstige Bahn schweifen. Plötzlich setzte sein Herz einen Schlag aus. Das war doch Prestigee – ohne Reiter –, der da direkt auf das grasige Gelände zusteuerte.
    »Haltet das Pferd auf!«, rief Charlie und wies auf das fliehende Tier. Wo zum Teufel steckte nur Rick?
    Mit dem Fernglas blickte er in die andere Richtung. Keine Spur von Bella und Jo. Plötzlich schnürte es ihm die Kehle zu. Er hörte über sein Funkgerät die Stimme des Rennbahnaufsehers und sah einen Krankenwagen über die angrenzende Bahn rasen, gefolgt vom Notfallwagen für Pferde. Außer sich vor Angst rannte Charlie den Fahrzeugen nach.
    Der Rennbahnaufseher verließ seinen Posten oben auf dem Hügel sofort im Eilschritt, nachdem er die Kollision von Bella und Prestigee beobachtet hatte. Der Anblick der verheerenden Folgen des Unfalls ließ ihn nach Luft schnappen. Jo lag zusammengesackt neben der Bahnbegrenzung. Sie war aschfahl, und an der Stelle, wo sie mit dem Gesicht gegen das Holz geprallt war, hatte sie einen langen Riss in der Haut. Rick lag einige Meter von ihr entfernt. Sein Arm war in einem unnatürlichen Winkel verdreht, und aus seiner gebrochenen Nase rann Blut.
    Nachdem der Aufseher sich vergewissert hatte, dass beide noch atmeten, drückte er Rick ein Taschentuch an die Nase. Dabei behielt er stets Bella im Auge, die immer noch panisch mit den Beinen schlug und sich auf Jo zu wälzen drohte. Mit schmerzgeweiteten Nüstern versuchte die Stute vergeblich, sich aufzurichten. Jedes Mal, wenn ein anderes Pferd vorbeilief, rollte sie voller Angst mit den Augen, und ihre Beine mit den weißen Fesseln ruderten ohnmächtig in der Luft. Von Prestigee fehlte jede Spur.
    »Hierher, er blutet sehr stark!«, rief der Aufseher den Sanitätern zu, die auf die Zwillinge zueilten. Nachdem diese das Kommando übernommen hatten, widmete er sich mit einem erleichterten Seufzer dem verletzten Pferd. Inzwischen waren zwei weitere Reiter aufgetaucht, und während einer Bella am Kopf festhielt, verständigte der Aufseher den Tierarzt.
    Schließlich traf Charlie, schwer atmend vom Laufen, am Unfallort ein und sah entsetzt zu, wie der leitende Sanitäter rasch neben Rick in die Knie ging und ihn auf Lebenszeichen untersuchte. Er deckte ihn zu und begann, die Blutung zu stillen.
    »Am besten kümmern wir uns zuerst um ihn«, wies er seinen Kollegen an. »Verdacht auf Kopfverletzungen.«
    »Wird gemacht. Hier, nehmen Sie das und decken Sie die andere Verletzte zu«, befahl er Charlie und hielt ihm eine Decke hin. »Aber Sie dürfen sie nicht bewegen.«
    Mit zitternden Händen nahm Charlie die Decke entgegen. »Passen Sie gut auf den Jungen auf. Er ist mein Sohn.«
    Mitleid zeigte sich auf dem Gesicht des Sanitäters.
    »Wir tun unser Bestes, Sir.«
    Charlie fühlte sich wie in einem bösen Traum, als er die Decke über die zierliche Gestalt seiner Tochter breitete. Die dunkelvioletten Schatten unter den geschlossenen Lidern wirkten fast schwarz, und ihre Lippen hatten die Farbe von Pergamentpapier. Er hatte genug
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